Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
Reetdach. Ein Unwetter lag in der Luft.
»Das wirst du nicht tun!«, beharrte David.
Mia öffnete eine rote Blechdose. Ein helles Glockenspiel ertönte. Sie füllte bedächtig drei Löffel Tee in eine Kanne und erwiderte ruhig: »Doch, Großvater. Ich komme mit.«
»Nein, das tust du nicht.«
»Sicher tu ich das.«
»Tust du nicht.«
»Tu ich doch!« Sie lächelte David an, ihre mächtigste Geheimwaffe. Er fühlte sich wie Eis in der Sonne dahinschmelzen, aber diesmal wollte er fest bleiben.
»Mia, es ist zu gefährlich. Du hast doch gesehen, wie es mir und Rebekka ergangen ist. Wir wurden auseinander gerissen und durften uns nur zum Abschiednehmen wieder sehen. Fast meine gesamte Familie ist vom Kreis der Dämmerung umgebracht worden – vielleicht sogar Dina, deine Mutter. Ich denke, du bist eine tüchtige Journalistin. Willst du denn die Fakten leugnen?«
»Nein.«
David atmete auf. »Das beruhigt mich.«
»Aber ich komme trotzdem mit.«
»Mia!« Er sprang auf, versuchte in der kleinen Küche auf und ab zu gehen, was ihm aber wegen der beengten Verhältnisse nicht recht gelang. Also ließ er sich wieder auf den rustikalen Stuhl fallen und seufzte. »Mia, du darfst nicht auch noch dein Leben opfern.«
»Du selbst hast zu mir gesagt, dein Lebensmaß sei beschränkt: Dir bleiben nur noch vier Jahre, Großvater! Du kannst jede Unterstützung brauchen.«
»Ich sehe mich schon wie Gandhi durch die Gegend schleichen, den Arm um deine Schulter gelegt, ein Greis auf seinem letzten Weg – ist es wirklich das, was du dir wünschst?«
»Du solltest nicht mit deinem Alter kokettieren, Großvater. Als ich dich in Tokyo zum ersten Mal sah, kamen mir eine Sekunde lang Großmutters Erzählungen von dir in den Sinn. Aber dann dachte ich, der Typ ist ja höchstens fünfzig…«
»Du hast mich Typ genannt?«
»Nur in Gedanken. Diese Greisenmasche kannst du dir also abschminken, Großväterchen. Lorenzo hat gesagt, du seist ›ergraut‹ und dennoch ›saftvoll und frisch‹. Ich finde, das trifft die Sache.«
»Ich kenne den Bibelvers. Steht in Psalm 92. Hat Lorenzo dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?«
»Er meinte, bald würde er zweiundneunzig sein. Er könne mit dir nicht mehr ganz Schritt halten. Wenn ich dir beim Recherchieren helfe und dich auf deinen Reisen begleite, dann schaffe er den Rest bis zum Ende des Jahrhunderts vielleicht auch noch.«
»Verräter!«
»Er ist dein Freund, Großpapa!«
»Das ist ja das Schlimme. Er hat fast immer Recht!«
Mia ergriff Davids Hand. »Dann nimmst du mich also mit in die Staaten?«
David stieß vernehmlich die Luft durch die Nase aus. »Wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Schließlich hast du ja außer mir jetzt niemanden mehr auf der Welt.«
Während der nächsten Monate stand David nicht nur Mia zur Seite, sondern in ihrer Person auch immer ein wenig von Rebekka. Das machte den Schmerz erträglicher für ihn, wenn er auch nie ganz verschwand.
Als anderthalb Jahre später, in der Nacht zum 31. August 1997, Diana Frances Spencer, die Princess of Wales, bei einem Autounfall in Paris ums Leben kam, ging ein Aufschrei um die Welt. Die Trauer um Lady Di ließ David an seine eigene »Prinzessin der Herzen« denken. Er und Rebekka hatten sich einmal geschworen, ihre Liebe selbst vom Tod nicht bezwingen zu lassen, und je weniger die ihm verbleibenden Jahre wurden, desto häufiger dachte er über dieses Versprechen nach.
Mit Rebekka hatte David auch seinen »Schatzkoffer« wiedergefunden, jenes inzwischen brüchig gewordene Lederbehältnis, in dem die Lebenserinnerungen seines Vaters ebenso überdauert hatten wie Jasons Träne. Die Glaskugel trug die Bildnisse einer anderen, längst vergessenen Bruderschaft Belials in sich. Zugleich zeugten die seltsamen Lichtreflexe, die den Glaskörper wie kleine Monde umgaben, auch von einer früheren Anrufung des Schattenlords. Endlich war David wieder im Besitz dieser geheimnisvollen Kugel, mit der er Belial zu ihrer ersten und letzten Begegnung herbeirufen wollte.
Bis dahin war jedoch noch das Rätsel der Giftgasanschläge von Tokyo zu klären. Das Wiedersehen mit Rebekka hatte diese Aufgabe ganz in den Hintergrund gedrängt. Zwar war seine Bruderschaft in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen, aber statt alte Fragen zu beantworten, waren neue aufgeworfen worden.
Kazuaki Okazaki, der verschwundene Exjünger Shoku Asaharas, war wieder aufgetaucht. Kurz nach Davids Abflug aus Tokyo hatte er sich der Polizei gestellt,
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