Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
auf zu atmen. Eine ganze Nacht lang blieb er noch neben ihr liegen.
Der Schmerz des Abschieds war groß, aber David fühlte dennoch eine stille Befriedigung, Ein weiteres halbes Jahr war ihnen vergönnt gewesen. Zugegeben, nicht sehr viel. Und doch für beide ein Stück Unendlichkeit, bedachte man, was David ihr einst gesagt und niemals in seinem Leben bereut hatte.
Jede Sekunde mit dir war mehr wert als alle Juwelen der Welt.
Auch Rebekkas zweiter Gedenkstein trug diese Inschrift. Wie zur Bekräftigung seiner Worte gab er ihr die Halskette mit der jahrtausendalten Karneolperle mit ins Grab.
Noch manches andere erinnerte David an die Zeit, als er sie schon einmal verloren zu haben glaubte. Damals hatte er sich getäuscht. Es war ein Irrtum, einer von der Art, die andere Menschen am Leben scheitern lässt. Aber nicht David. Er musste an den Tag seiner Hochzeit denken, an einen Trauerzug in Schottland, einen leeren Sarg. Nein, er hatte nie an ein böses Omen geglaubt und nun verstand er, was – wenn überhaupt – der leere Sarg des Knaben Jonathan Jabbok für ihn bedeutete: Rebekka war nicht tot gewesen. Sie hatte überlebt! Ob wohl auch der schottische Junge noch am Leben war?
Schon lange hatte eine Beerdigung auf dem alten Friedhof der Stadt Heide nicht mehr so viele Trauergäste gesehen wie an diesem windig-kalten Januarmorgen. Rebekka wohnte in den Herzen all der Anwesenden und würde es auch weiterhin tun. Aus Amerika waren Davids engste Freunde angereist, auch Kim, die am Grab wie um eine Mutter weinte. Lorenzo hielt eine würdevolle und leise Ansprache, in der viel von Hoffnung die Rede war. Natürlich sparte er nicht an Bibelversen.
Anders als einst in London brach David diesmal nicht völlig zusammen. Aus seinen Tränen machte er dennoch keinen Hehl. Alle durften sehen, wie sehr er sie geliebt hatte und noch immer liebte. Nicht jeder der wortkargen Trauergäste hatte dafür Verständnis, aber die meisten achteten Rebekka Rosenbaums Ehemann dennoch.
Zuletzt, als nur noch Mia und Kim, Lorenzo und Ruben in einiger Entfernung auf ihn warteten, übermannte ihn noch einmal der Schmerz. David wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels die Tränen aus dem Gesicht, hob einen Stein vom Kiesweg auf und legte ihn ans Kopfende des offenen Grabes. Dann sagte er leise: »Warte auf mich, Liebes. Ich komme bald nach. Und dann bleiben wir für immer zusammen.«
Der Hacker
In Mia vereinigten sich alle Vorzüge ihrer Großeltern. Jedenfalls war David fest davon überzeugt. Sie besaß Rebekkas Anmut, Liebreiz und Neigung für das Schöne. Darüber hinaus verstand sie es auch, Reportagen und Essays von sehr hohem Niveau zu verfassen. Genauso wie ihr Großvater arbeitete sie als freie Journalistin. Mia schrieb für den Spiegel, ein deutsches Wochenmagazin, das sich selbst in der Tradition von Time sah und dem sie auch ihren letzten Japanaufenthalt zu verdanken hatte. Hin und wieder machte sie auch Reportagen für andere Blätter, sogar für National Geographic hatte sie schon geschrieben. David war stolz auf sie.
Nach dem Tode ihrer Eltern hatte sich Rebekka um die Erziehung der Enkelin gekümmert, ja, sie sogar adoptiert, weshalb Mia nun deren Mädchennamen trug. Der Verlust von Dina und Daniel war für Mia ein traumatisches Erlebnis gewesen und hatte ihre Persönlichkeit nachhaltig geprägt. Oft schaute sie ernst drein, war für Albernheiten nur selten zu begeistern. Wenn sie aber lachte oder mit David scherzte, musste er immer unweigerlich an Rebekka denken. David hegte sogar den Verdacht, Mia könnte vielleicht einige seiner Gaben geerbt haben. Auf ihre ganz eigene Art konnte sie Situationen oder Menschen beurteilen, Entwicklungen und Reaktionen voraussehen, als schlummere in ihr eine besondere Spielart der Sekundenprophetie. Mit ihrem ruhigen, ausgleichenden Wesen wirkte sie wie eine Verzögerin: Hektik hatte in ihrer Gegenwart nicht lange Bestand. Manchmal war sie sogar eine Farbgeberin: Ein Lächeln von ihr genügte, um einem jungen Mann die Röte ins Gesicht steigen zu lassen.
David liebte sie. Schon bei Kim, Phillihi und Abhitha hatte er väterliche Gefühle verspürt, aber durch Mia lernte er eine ganz neue, viel intensivere Art von Empfindung kennen. Sie war sein eigen Fleisch und Blut. Im Grunde hätte er daher froh sein müssen, als sie ihm nun, da in Rebekkas Häuschen wieder Stille eingekehrt war, ihre Hilfe anbot, aber dem war durchaus nicht so. An diesem Nachmittag knisterte es unter dem
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