Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
sich David.
Mia lächelte geheimnisvoll »Ich habe es natürlich nur bildlich gemeint – denke ich jedenfalls.«
»Wie auch immer«, sagte David, »meine Auftritte in der Vergangenheit waren oft von eher begrenztem Erfolg: Ich habe Belial zwar ein paar Logenbrüder geraubt, aber seine wichtigsten Geheimnisse konnte er für sich behalten. Nein, bevor ich Kelippoth meinen Höflichkeitsbesuch abstatte, muss ich wissen, was der Geheimbund genau plant und wie man den Ring des Schattenlords vernichten kann.«
Wie befürchtet, nahmen die verdeckten Ermittlungen in Sachen Lucius Sola alias Kelippoth viele kostbare Tage in Anspruch. Immerhin gelang es Davy, sich unbemerkt in das Firmennetz von Phosphoros einzuschleichen und seinen Trojaner zu installieren. Von da an diente ihm das ›Schnüffelprogramm‹ als elektronischer Undercoveragent, der nicht nur die gewaltigen Datenbestände von Solas Medienkonzern ausspionierte, sondern auch die Ergebnisse still und leise hinausschmuggelte, um sie Davys weiterer Prüfung zu übergeben.
Ende Juni war die Kernmannschaft der Nachrichtenfarm Westport nach Staten Island umgezogen. Je nach Aufgabenstellung bevölkerten zwischen zwölf und zwanzig Personen den luxuriösen Landsitz. In fast jedem Zimmer des Gebäudes standen Schreibtische und Computer. Nur unter dem Dach gab es vier kleine Dienstbotenkammern, die jetzt von David, Mia, Davy und Lorenzo bewohnt wurden.
David gab sich alle Mühe, nicht ständig an seine ablaufende Lebensuhr zu denken. Von Davy, Dee-Dee und den anderen Computerspezialisten kamen schon erste Beschwerden, weil er sie stündlich nach dem Stand ihrer Recherchen fragte. Persönlich bevorzugte er nach wie vor die klassische Ermittlungsmethode: Er sprach mit Menschen-David rechnete mit irgendeiner teuflischen Aktion Belials, die möglicherweise nur durch schnelle Maßnahmen des Militärs oder anderer offizieller Stellen zu vereiteln sein würden. Daher frischte er seine Kontakte zu hohen Beamten, Generälen und Ministern auf. Er gewährte sogar Bill Clinton, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die Ehre eines echten Pratt-Interviews.
Auf der Suche nach Informationen über Lucius Sola traf sich David auch mit mehreren Managern von Time Warner, dem Mediengiganten, in dem das Blatt von Briton Hadden und Henry Luce überlebt hatte. Nein, es war nicht mehr wie früher, als er jederzeit mit den Herausgebern des Time-Magazins hatte sprechen können. Doch was nutzte es, dem Verlorenen nachzutrauern? Noch war David eine lebende Legende und das nutzte er aus. Die profitorientierten Direktoren verrieten ihm einige aufschlussreiche Details über den ungeliebten Newcomer Phosphoros und im Gegenzug erklärte er sich zur Mitarbeit an drei Projekten bereit.
Eines davon war die Neufassung eines schon früher von ihm geschriebenen Beitrags für den Times Atlas of the 20th Century. »Im Jahr 1900 bemaßen Völker wie Einzelpersonen ihren Wert noch größtenteils nach immateriellen Kriterien, also nicht nach dem Geld«, formulierte er. »Am Ende des Jahrhunderts bewerten Nationen wie Staaten ihren Erfolg fast ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten.« Es war eine sehr persönliche Abrechnung mit seinem Jahrhundert, streckenweise schonungslos offen, aber, wie er glaubte, immer dicht an der Wahrheit.
Er betrachtete den Trend zur Globalisierung mit wachsendem Argwohn. Firmenimperien erwirtschafteten mehr Gewinn und erwarben mehr Macht als mancher Staat, ohne gleichzeitig die Verantwortung dieser Gemeinwesen anzunehmen. An einem System, das davon profitierte, die Existenzgrundlage von Menschen zu zerstören, konnte Davids Meinung nach etwas nicht stimmen. Aber obwohl die Arbeitslosigkeit auf der Prioritätenliste der internationalen Politik ganz oben stand, hatte sich die Einstellung der Menschen zum Wohlstand im zwanzigsten Jahrhundert ebenso wie die der Wirtschaftsunternehmen gewandelt. Nur wenige wollten sich auf die alten Werte besinnen. Ganz im Gegenteil. Immer mehr der über Jahrhunderte hinweg bewahrten und bewährten Tugenden lösten sich auf wie Morgennebel im Sonnenschein – scheinbar drehte sich alles nur noch ums Geld. Lotterien und Fernsehshows, bei denen man Millionen gewinnen konnte, waren Renner. Die Botschaft war unüberhörbar: Geld ist vielleicht nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts.
David fand es ausgesprochen paradox, dass die Menschen in den Städten immer näher zusammenrückten und sich dabei aber immer mehr
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