Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
Vater hat sie, von den Gestapoleuten unbemerkt, aus den Trümmern gezogen. Es war ja dunkel, Verletzte schrien vor Schmerzen, ein unbeschreibliches Durcheinander. Er lud sich Rebekka auf die Arme, um mit ihr zu verschwinden. Aber dann, durch ein herzerweichendes Wimmern zurückgehalten, drehte er sich doch noch einmal um. Und da sah er sie: Mutter. Ihr müsst euch das einmal vorstellen! Er hielt sie auf seinen Armen und musste zugleich mit ansehen, wie ihr Zeitzwilling sich stöhnend auf die Füße stellte, dieser Frau von einer Wache in die Hüfte geschossen wurde und sie schließlich in die Dunkelheit davonschwankte. Es müsse die Berührung seiner Hände gewesen sein, die Rebekka ›gespalten‹ habe, begründete er später seine anfängliche Scheu vor jedem Körperkontakt mit Daniel und mir. Vielleicht wird dir allmählich klar, Davy, weshalb Vater einen solchen Respekt vor jedem Eingriff in den Lauf der Zeit hatte.«
»Mein Verstand sträubt sich zwar noch, aber ich kann mir in etwa vorstellen, was ihm durch den Kopf gegangen sein muss. Womöglich hätte sich bei einer Art Kettenreaktion noch die ganze Erdbevölkerung verdoppelt! Haben die beiden eigentlich in Deutschland den Krieg überlebt, so wie deine Mutter bei den Nogielskys?«
»Nein, sie sind damals auf verschlungenen Wegen aus dem Nazireich geflohen. Er hat ihr erst einige Zeit später gesagt, dass er aus der Zukunft stammt. Ihr könnt euch ihre Reaktion darauf vorstellen. Ich habe übrigens dennoch eine Art Zwillingsschwester, die ihr bald kennen lernen werdet. Die gerettete Rebekka hat sie auf Blair Castle in Schottland zur Welt gebracht und zwar genau in derselben Minute, in der ich geboren wurde. Sie warteten noch einige Wochen, bis ihr Töchterchen alt genug war, um es für einige Tage der Duchess of Atholl anzuvertrauen. Dann reisten die beiden hierher, wo Vater Nummer eins in seiner Trauer über Mutter vor sich hin dämmerte. Als er sein Alter Ego darauf mit Rebekka auf dieser Klippe entdeckte, hat er Stony House fluchtartig verlassen und seinen Kampf gegen Belial wieder aufgenommen. Kurze Zeit später ist dann die Familie Camden hier eingezogen. Nach dem Krieg brachte Rebekka noch zwei gesunde Jungen zur Welt, meine Halbbrüder Lorenzo und Ruben. Die fünf haben hier sehr zurückgezogen gelebt, aber glücklich.« Dina streichelte Mia liebevoll über die Wange. »Dein Vater und ich haben ein Häuschen in St. Ives. Ihr müsst uns mal besuchen kommen.«
»Hin und wieder hat David aber doch in das Geschehen eingegriffen«, sinnierte Davy. Die Finger seiner Linken kraulten den kurz geschorenen Vollbart. »Diese Rätsel auf den Spielkarten stammen doch von ihm, oder?«
Dina nickte. »Wenn Ihr wüsstet, was für eine Überwindung ihn das jedes Mal gekostet hat. In seiner Angst, eines dieser Zeitparadoxe auszulösen, konnte er sich einfach nicht dazu durchringen, Klartext zu schreiben. Schon gar nicht, sich zu erkennen zu geben. Er glaubte, sein anderes Ich müsse selbst auf die Lösung kommen, und wollte gewissermaßen nur Muse spielen.«
Davy blickte nachdenklich auf die Keltische See hinaus. Dann nickte er und lächelte Mia, Klein David und zuletzt Dina glücklich an. »Wenn man einfach alles vergisst, was man bisher für das einzig Richtige gehalten hat, klingt diese Geschichte sogar einleuchtend.«
Nachwort
»Unser heutiger Mangel an Zuversicht wäre vor einhundert Jahren unfassbar gewesen«, schrieb J. A. S. Grenville drei Jahre vor Ablauf des zweiten Jahrtausends. Meine Leser werden hoffentlich mit mir darin einig gehen, dass Der Kreis der Dämmerung kein düsteres Endzeitdrama ist. Doch der von Grenville beklagte Mangel an Zuversicht kann sicher nicht allein durch Jammern und Klagen behoben werden. Der Wegbereiter entschlossenen Handelns muss kritisches Nachdenken sein. Eine medienüberladene Welt verteilt an jeder Straßenecke Scheuklappen, die auch reichlich angenommen werden. Leider behindern sie nur allzu leicht neue Sichtweisen, die auf der Suche nach der Wahrheit unabdingbar sind.
Der vorliegende phantastische Stoff kann, ja, soll hier durchaus Anregungen geben. Er gewährt aber nicht nur eine nachdenkenswerte Rückschau auf ein bewegtes Jahrhundert Menschheitsgeschichte, der Roman ist auch – Isaus Stammleserschaft wird’s nicht entgangen sein – eine Reminiszenz auf des Autors eigenes Werk im zwanzigsten Jahrhundert. An der Phantastik reizt viele Autoren ja vor allem der kreative Akt, ganze Welten zu entwerfen.
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