Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
David schrieb langsam buchstabierend den schwierigen Namen nieder.
Andreas verdrehte die Augen zur Decke hin, aber er tat es mit einem versöhnlichen Lächeln. »Eigentlich hieß er Johannes Hesychastes. Er war ein Mystiker und ist Mitte des sechsten Jahrhunderts gestorben. Wir müssen hier irgendwo seine Handschrift über die antike Mystik haben.«
»Irgendwo?«
Der Mönch lächelte säuerlich. »Ehrlich gesagt werden diese alten Manuskripte so gut wie nie angefordert. Außer in den letzten Tagen.«
»Etwas Ähnliches habe ich auch schon gehört. Wer ist denn so sehr an diesem Hesychastes interessiert?«
»Zwei Russen: Zuerst kam ein Kleriker und später ein Novize auf Pilgerfahrt. Letzterer sieht aus wie ein Mongole. Solche Brüder verirren sich nicht oft hierher, seit die russisch-orthodoxen Mönche vom Heiligen Berg gejagt wurden.«
»Wieso denn das?«
»Sie wollten den gregorianischen Kalender einführen.«
»Abscheulich! Wann waren die beiden Russen denn hier?«
»Der Novize ist noch nicht abgereist. Sie werden ihn bestimmt kennen lernen.«
»Das wäre allerdings interessant. Können wir in der Zwischenzeit noch irgendetwas über diesen Bund von Bisutun in Erfahrung bringen?«
»Ich kann es versuchen. Warten Sie!«
Erneut verschwand Andreas in den Tiefen der Regalschluchten und kehrte nach einiger Zeit mit einem Stapel voller Handschriften zurück. Diesmal musste David mehr Geduld aufbringen. Augenscheinlich war der Mönch in den Schriften des Hesychast wesentlich weniger bewandert als in jenen des ersten Klostergründers von Athos.
Um die Mittagszeit kehrte Emanouel zurück, um seinen Anbefohlenen ins Refektorium zu bringen. David ließ sich nur höchst ungern in den Speisesaal des Klosters führen, aber die beiden Mönche waren in diesem Punkt unnachgiebig. Die Kuttenträger nahmen ihre Mahlzeit schweigend ein. Ein wenig mehr Heiterkeit hätte David keinesfalls als ruchlos empfunden. Als er Emanouel flüsternd nach dem jungen russischen Novizen fragte, schüttelte der nur erschrocken den Kopf. Nach einem erstaunlich deftigen Gemüseeintopf, der markant nach Hammelfleisch schmeckte, kehrte er endlich in Emanouels und Andreas’ Begleitung zu den Büchern zurück.
Wie sich unter Gottes blauem Baldachin schnell feststellen ließ, hatte der russische Novize geschwänzt. Vielleicht stattete er einem der nahe gelegenen Klöster einen Besuch ab, mutmaßte Emanouel.
Am späten Nachmittag wurde die Suche noch einmal durch den Gottesdienst unterbrochen, dem David sich geschickt entzog. Im Laufe der Jahre hatte er sich durch die Vermittlung von Lorenzo viel urchristliches Gedankengut angeeignet – die Bibel erwähnte nichts von Klöstern, Kirchenfürsten und dem ganzen Brimborium. Andreas konnte nach der Andacht gar nicht schnell genug in die Bibliothek zurückkehren, in der ihn David bereits erwartete. Der Mönch war augenscheinlich vom Jagdfieber seines Gastes angesteckt worden.
Allmählich näherte sich der neue Tag (nach der auf Athos gebräuchlichen byzantinischen Zeiteinteilung hieß das mit Sonnenuntergang). Als die elektrische Beleuchtung in der Bibliothek längst unverzichtbar geworden war, bemerkte David an dem bisher gelassen wirkenden alten Bücherwurm eine gewisse Nervosität. Andreas durchsuchte mehrmals den Stapel mit Manuskripten, offenbar ergebnislos.
»Was ist?«, wagte David zu fragen.
Zunächst war nur ein ärgerliches Stirnrunzeln die Antwort, dann jedoch erwiderte der Mönch: »Ich vermisse etwas. In dieser Handschrift dort erwähnt Hesychast tatsächlich einen Bund von Bisutun. Als sein geheimer Versammlungsort im Zagrosgebirge entdeckt wurde, zog er sich vorübergehend nach Melitene zurück, später dann nach Mazaka und schließlich richtete er sich ein neues Refugium am Fluss Halys ein. Das alles ist zwar recht aufschlussreich, aber dies hier scheint nicht das Dokument zu sein, auf das sich Athanassios von Trapezunt bezieht.«
»Mir sagen alle diese Namen überhaupt nichts.« Weshalb sie David flugs notierte. »Was lässt Sie da so sicher sein?«
»Die Gegend am Halys ist von Hesychast gründlich studiert worden. Seine Eindrücke hat er in einem eigenständigen Werk zusammengefasst. Er nimmt hier wiederholt auf den Bericht seiner Reise durch das Tal der Schlafenden Zauberer Bezug.«
»Das Tal…? Aber das ist es doch, wonach wir suchen!«
»Dieses Zimelium… «
»Was, bitte schön?«
»Ein Zimelium. Der Entstehungszeit nach vermutlich ein alter Kodex, einem Buch
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