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Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund

Titel: Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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möchte nicht mit seinem Wissen glänzen, sondern nur durch sein gottgefälliges Wesen.«
    Endlich erreichten sie die Zelle des »heiligen Vaters Konstantin«. Genau genommen handelte es sich bei dem schmucklosen und, trotz der weiß gekalkten Wände, düster wirkenden Raum um das Amtszimmer des Klostervorstehers, eines nicht sehr großen Mannes, dessen langer grauer Vollbart wie Stahlwolle auf einem kugelrunden Bauch ruhte. Der Abt lächelte väterlich und streckte David zwei knubbelige Hände entgegen.
    David verbeugte sich leicht und ließ von Emanouel seine Begrüßung übersetzen. Augenscheinlich war der Prior von Iviron derartige Empfangszeremonien gewohnt. Er meisterte sie routiniert und geschäftsmäßig. Mit einem Anflug von Verwunderung bemerkte er beiläufig, dass sein Gast bereits der dritte Bibliotheksbesucher innerhalb weniger Tage sei. Nach einer höchstens fünfminütigen Einweisung wurde David an Bruder Andreas verwiesen, dem die Bibliothek von Iviron unterstand.
    Emanouel, dem während Davids Aufenthalt offenbar die Rolle des Fremdenführers zugedacht war, geleitete den Gast darauf zunächst in seine Zelle, damit er sich des Reisegepäcks entledigen konnte. Davids kühles, etwas muffig riechendes Gemach maß ungefähr vier auf zwei Meter fünfzig. Die Inneneinrichtung war sehr übersichtlich: ein Holzbett und ein Hocker.
    »Ich bringe Sie jetzt zu Bruder Andreas«, verkündete Emanouel. »Auf dem Weg in die Bibliothek werden Sie noch ein wenig die Klosteranlage kennen lernen.«
    Wenige Minuten später liefen sie wieder durch die heiße Sonne. Emanouel zeigte David die Werkstatt der Ikonenmaler. Meistens arbeite er hier, gelegentlich aber auch in der Kellie.
    David achtete kaum auf den Mönch, weil ihn ein Geräusch irritierte. »Höre ich da Hühner?«
    Emanouel grinste.
    »Also ja«, deutete David das Mienenspiel des Ikonenmalers. »Bisher hatte ich immer geglaubt, Hühner fielen unter die Kategorie der weiblichen Tiere.«
    »Sie genießen auf Athos einen Sonderstatus. Ich brauche das Eidotter für die Farbherstellung. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was für Kunstwerke wir Maler hier geschaffen haben.«
    »Ich würde jetzt eigentlich lieber in die Bibliothek…«
    »Es liegt praktisch auf dem Weg«, unterbrach Emanouel.
    David seufzte und ließ sich vom Ikonenmaler in die »phantastische Portaitissa-Kapelle« schleppen. Aus dem Pflichtprogramm wurde unerwartet eine höchst aufschlussreiche Sightseeingtour. Hatte nicht auch Lorenzo das Bethaus erwähnt?
    »Die Fresken hier im Narthex sind sowohl künstlerisch als auch thematisch eine Besonderheit«, dozierte Emanouel und deutete dabei auf die Wand- und Deckenmalereien der westlichen Vorhalle des Gotteshauses. »Dort drüben sehen Sie mehrere Persönlichkeiten der heidnischen Antike: Platon, Aristoteles, Alexander den Großen und sogar den Perserkönig Darius…«
    »Ein Perserkönig?« David war plötzlich hellhörig geworden. Er musste an Dareios I. denken, den persischen Großkönig auf dem Hochrelief in Behistan.
    »Der Künstler hat diese Männer als weise Wegbereiter des Christentums betrachtet.«
    »Ich würde jetzt doch gerne die Bibliothek sehen«, drängte David voller Ungeduld.
    Emanouel wirkte enttäuscht. Allerdings nicht lange. Er zuckte nur mit den Schultern und führte seinen Gast wieder auf den Innenhof hinaus und von dort in ein anderes Gebäude, das auch nicht viel moderner wirkte als der Amtssitz des Priors Konstantin. Außen bestach es durch grob behauenen Stein, gekalkte Wände und ein rotes Ziegeldach. Der Hauptteil des Schriftenbestandes war in einem großen trocken-kühlen Raum mit dunklen Holzregalen untergebracht, in den das Sonnenlicht nur beschränkt Zutritt hatte. Höchstens drei Meter von den Schießscharten gleichenden Fenstern entfernt konnte man ohne elektrisches Licht kein Buch mehr lesen.
    Andreas sah ungefähr so alt aus, wie David es war. Sein Bart übertraf den des Besuchers um mindestens dreißig Zentimeter. Nicht mit der Verantwortung belastet, die den Abt niederdrückte, wirkte sein Lächeln erheblich befreiter. Von hoher kräftiger Statur, erinnerte der Klosterbibliothekar eher an einen Schmied, und als David eine diesbezügliche Bemerkung machte, lachte er dröhnend und meinte in flüssigem, wenngleich hart klingendem Englisch, in seinem Leben habe er schon einer Menge Esel Beine gemacht.
    Für gewöhnlich verwendeten die nach Iviron kommenden Pilger nur wenige Minuten, um einige goldprotzende Prunkstücke

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