Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
aus den mittelalterlichen Skriptorien zu besichtigen, beklagte sich Andreas, selten verlange einer tiefere Einblicke in die hier aufbewahrten Schätze des Wissens. In der letzten Zeit schien allerdings das Interesse gestiegen zu sein. Der Bibliothekar drückte dem Ikonenmaler das Handbuch mit den Beschreibungen der heiligen Frauenleiber in die Hand und schickte ihn in den Lesesaal.
»Was suchen Sie genau?«, fragte er daraufhin David.
»Es geht mir um einen Geheimbund, der seit langer Zeit in Kurdistan oder einem benachbarten Gebiet tätig ist.«
»Wie alt?«, unterbrach der grauhaarige Mönch seinen Gast.
»Ich habe gerade in der Portaitissa-Kapelle die Fresken von Alexander dem Großen und König Darius gesehen. Haben Sie hier auch schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit?«
»Das liegt sehr weit zurück!«, grübelte Andreas. »Wir verfügen in der Bibliothek über keine antiken Originale, aber es gibt Abschriften und außerdem etliche Kommentare, die Babylons Eroberung durch Kyros und Gobryas beschreiben – Letzterer wird von vielen mit dem biblischen Darius gleichgesetzt. Auch über die Zeit danach haben wir umfangreiche Bestände hier. Was also suchen Sie genau, Mr Claymore?«
»Nun, wie gesagt, es handelt sich um eine geheime Loge oder einen Orden. Er muss schon lange vor Alexander dem Großen existiert haben. Damals befand sich seine Versammlungsstätte offenbar in Behistan. Auf einer in Qumran gefundenen Schriftrolle wird ein so genannter ›Ararat-Bund‹ erwähnt, der sich wiederum Generationen später ›im Schatten des Berges der Arche‹ versammelte. Ich vermute ein und dieselbe Geheimloge hinter diesem ominösen Zirkel.«
»Womit beschäftigt er sich?«
David war von der Aufrichtigkeit des Mönchs überzeugt, daher antwortete er freiheraus: »Mit der Vernichtung der Menschheit.«
»Ach!«, schnappte Andreas. »Und sonst nichts?«
David schüttelte den Kopf. »Haben Sie schon einmal vom Tal der Schlafenden Zauberer gehört?«
Der Mönch begann sich den Bart zu kraulen. Sein Blick bekam etwas Abwesendes. Schließlich antwortete er: »Der Name schlägt eine Saite in mir an, aber ich kann ihren Klang nicht deuten. Assyrer, Hethiter, Griechen und Römer schwirren durch meinen Kopf, aber… Vielleicht sollten wir bei Athanassios von Trapezunt anfangen.«
»Der Name sagt mir nichts.« David machte sich auf einem mitgebrachten Block Notizen.
»Lassen Sie das nur ja nicht Vater Konstantin hören. Athanassios hat das erste Kloster auf dem Athos gegründet. Er verstarb bei der Einweihung eines Gebäudes.«
»Herzversagen?«
»Der Neubau ist über ihm zusammengestürzt.«
»Oh, wie bedauerlich.«
»Warten Sie!« Der Klosterbibliothekar trat in die Schatten der mächtigen Regale. Wie aus der Ferne hörte David seine volltönende Stimme. »Wir haben hier von Athanassios das Werk Hypotyposis, es enthält Ordensregeln. Außerdem noch die Schrift Diatyposis mit detaillierten Regeln für die Übertragung klösterlicher Macht. Darüber hinaus… Ah! Hier hab ich’s!«
Während David noch die Namen der mittelalterlichen Schriften aufschrieb, kehrte Andreas mit einer Manuskriptsammlung zurück, die zwischen zwei lederbezogenen Holzdeckeln eingeschnürt war. Er legte sie auf einen Tisch unmittelbar vor der Schießscharte und öffnete das Verschlussband. Nachdem er sich wollene Handschuhe übergestreift hatte, begann er die einzelnen Pergamentbögen durchzugehen. »Das sind verschiedene Notizen und Berichte, die Athanassios im Laufe seines Lebens angefertigt hat, Gedankenschnipsel, wenn Sie so wollen. Ich könnte Ihnen dutzende… Ah, hier ist es!« Der Bibliothekar deutete auf eine in braunschwarzer Tinte geschriebene Textzeile, für deren Entzifferung David mit seinen verstaubten Kenntnissen in Altgriechisch vermutlich eine Woche benötigt hätte.
»Was steht da?«, fragte er ungeduldig, was ihm prompt einen mahnenden Blick des Mönchs eintrug.
»Wusste ich’s doch!«, murmelte Andreas nach einer quälend langen Zeit.
»Darf ich an Ihrem Wissen auch teilhaben?«
»Athanassios erwähnt hier einen ›Bund von Bisutun‹, von dem er bei Hesychast gelesen hat.«
»Bringt uns das weiter?«
Wieder der strenge Blick aus den braunen Augen des Mönchs. »Bisutun ist ein anderer Name für Behistan. Vermutlich reden Athanassios von Trapezunt und Hesychast von demselben Zirkel, den Sie als ›Ararat-Bund‹ bezeichnet haben.«
»Auf die Gefahr hin als ungebildet zu erscheinen: Wer war H-e-s-y-c-h-a-s-t?«
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