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Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund

Titel: Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ähnlich, ein Block aus zusammengenähten und gefalteten Pergamentbogen. In meiner Bibliothek herrscht Ordnung. Es müsste sich in diesem Stapel dort befinden.« Er deutete auf den Manuskriptturm. »Tut es aber nicht.«
    »Wie meinen Sie das? Vielleicht haben Sie es nur verlegt…« Ein strafender Blick aus Andreas’ strengen Augen veranlasste David zu einer Korrektur. »Oder könnte das Buch ausgeliehen worden sein?«
    »Solche Schriften dürfen die Bibliothek nur mit Genehmigung des Abtes verlassen.«
    David musste an den russischen Novizen denken. »Manchmal werden Vorschriften auch übertreten. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass unser Pilgerbruder heute weder beim Mittagsmahl noch – wie Emanouel mir ausdrücklich bestätigt hat – während des Nachmittaggottesdienstes anwesend war?«
    Nun wurde Andreas von gerechtem Zorn erfasst. »Vielleicht hat der Abt die Genehmigung zur Entnahme erteilt, ohne mich vorher zu informieren. Das wäre zwar ungewöhnlich, aber ich will es nicht völlig ausschließen. Kommen Sie, Mr Claymore, wir werden Bruder Konstantin einen Besuch abstatten.«
    In der Abenddämmerung stapften der grobschlächtige Mönch und sein hagerer Begleiter über den Klosterhof.
    »In Vater Konstantins Stube brennt noch Licht«, stellte Andreas fest. »Er macht wieder einmal Überstunden.«
    »Ist denn das erlaubt?«
    Im Gegensatz zu Emanouel war der Bibliothekar für Davids ironische Anmerkungen durchaus zugänglich. Er lachte und sagte nur: »Kommen Sie. Wir werden den Vorfall melden und sehen, was der Abt dazu meint.«
    Prior Konstantin war empört. Darüber vergaß er sogar seine fromme Bescheidenheit und machte dem amerikanischen Gast zuliebe seinem Unmut in Englisch Luft. Er habe in den letzten anderthalb Wochen keine Erlaubnis erteilt zur Entnahme irgendwelcher Schriften. Man müsse die Angelegenheit unverzüglich klären, am besten sofort.
    Höchstpersönlich nahm Konstantin nun die Ermittlungen auf. Ohne Rücksicht auf seine Körperfülle eilte er durch Flure und Treppenhäuser in den Zellentrakt, der den Pilgern vorbehalten war. Andreas und David hingen an seinem Kuttenzipfel. Schwitzend erreichte der Prior eine Holztür am anderen Ende des Ganges, von dem auch Davids Gästekammer abging. Er klopfte.
    Keine Antwort.
    Konstantin rief einen Namen, der sich wie »Halleluja« anhörte.
    David rechnete nicht wirklich mit einer Antwort, gleichwohl meldete sich nun hinter der Tür eine überraschte Stimme mit »Da?«
    »Das ist Russisch und bedeutet ›ja‹«, erläuterte Konstantin. Er wandte sich wieder der Tür zu und antwortete – erstaunlicherweise – in derselben Sprache. David konnte den Prior nicht verstehen, aber das Ganze klang sehr beeindruckend.
    Gleich darauf öffnete sich zaghaft die Tür. Hinter Andreas’ breiten Schultern erspähte David einen zarten jungen Mann, an dem, abgesehen von Gesicht und Händen, so ziemlich alles schwarz war: die Robe, die flache Kappe, die wenigen darunter sichtbaren Haare, der kurze krause, aber dichte Vollbart und die Augen – in denen sich Furcht spiegelte.
    »Gospodin Allilujew, mein Sohn«, eröffnete der Prior das Verhör. »Sie sagten mir bei der Begrüßung, Sie seien des Französischen mächtig. Mit Rücksicht auf meine beiden Begleiter wollen wir unsere Unterhaltung in dieser Sprache führen.«
    Während David noch über die unerwartete Sprachgewandtheit des Priors staunte, nickte Allilujew schüchtern und antwortete mit dünner knabenhafter Stimme: »Worum geht es denn?«
    »Um einen wertvollen, in der Bibliothek vermissten Kodex. Dürfen wir eintreten?« Der Prior streckte den Hals in Richtung Türspalt, als wolle er seine Augen schon einmal vorauseilen lassen.
    Zögernd öffnete Allilujew die Pforte in seine Kammer. Sie war genauso üppig ausgestattet wie die Davids. Eigentlich hätte schon ein Blick gereicht, um einen Gegenstand von der Größe eines Rosenkranzes zu entdecken, aber der erhitzte Prior bestand dennoch auf einer gründlichen Durchsuchung.
    David trat als Letzter in die Gästezelle. Konstantin und der Bibliothekar hatten ihn bisher fast ganz verdeckt. Als sich der Novize dem dritten Inspekteur nun gegenübersah, erschrak er. Ja, mehr als das, er fuhr sichtlich zusammen, riss die Augen auf und ließ den Kinnladen fallen.
    »Was ist?«, fragte David.
    Einen Moment blinzelte der Novize, als wolle er einen bösen Traum verscheuchen, dann antwortete er: »Nichts. Ich habe nur… Eine Verwechslung. Entschuldigen Sie bitte,

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