Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
erschrocken, als Sie mich zum ersten Mal sahen?«
Jetzt blickte Kim Tong ihrem Bezwinger offen ins Gesicht. »Sie ähneln jemandem, den ich gut kenne. Aber dann habe ich Ihre Augen gesehen und gewusst, dass Sie ein anderer sind.«
David war der aggressive Unterton in der Stimme des Mädchens nicht entgangen, weshalb er fragte: »Wer ist dieser Mann?«
»Mein Erzeuger.«
»Sie sprechen so sonderbar von Ihrem Vater.«
»Was vielleicht daran liegt, dass ich ihn hasse.«
In diesem Moment klapperte eine kleine Steinlawine den Hang hinab. David und Kim Tong blickten nach oben. Aus einem Klosterfenster drang Licht.
»Ich glaube, man hat uns bemerkt«, sagte David. Was sollte er nun mit dem Mädchen anfangen? Von Emanouel wusste er, dass es auf Athos griechische Polizisten gab. Vermutlich wären sie nur allzu bereit, diesen »Fremdkörper« in Gewahrsam zu nehmen. Kurz entschlossen bückte sich David nach dem Paket mit dem Kodex und hielt Kim Tong die Hand entgegen.
»Es wird Zeit abzureisen. Das da drüben ist doch Ihr Boot, oder?«
Zum ersten Mal lächelte Kim Tong. »Natürlich, ich bin doch keine Diebin.«
Der Außenbordmotor der Drenia machte die Unterhaltung nicht gerade leichter. Aber David verstand sich darauf, Menschen zum Reden zu bringen und allmählich taute Kim Tong auf. Sie habe das weiß lackierte Boot mit himmelblauem Dollbord von einem Fischer aus Nea Roda geliehen, einem kleinen Ort an der Ostküste von Athos, gleich hinter der Grenze der Mönchsrepublik.
Weil sie das weit in die Agäis ragende Kap Arapis umrunden mussten, hatten sie eine Strecke von etwa fünfzig Kilometern zurückzulegen. In Drenias Bauch lag ein Fass, aus dem David mehrmals neuen Treibstoff in den Tank des Motors pumpte.
Kim Tong war die Tochter eines hohen sowjetischen Funktionärs. Sein Einfluss war so groß, dass er sich Privatgeschäfte größeren Stils erlauben konnte, was in der UdSSR nur selten geduldet wurde. Ihre Mutter stammte aus Vietnam. Die Eltern hatten sich in Hanoi kennen gelernt. Kims Mutter sei, wie sie schmunzelnd anmerkte, um »achthundert Ecken« mit Ho Chi Minh verwandt, dem Gründer der KPI, der Kommunistische Partei Indochinas. Ob das nun den Ausschlag für die Heirat der beiden gegeben hatte oder die Anmut und Grazie ihrer Mutter, darüber grübelte Kim noch immer. Fest stand, dass Wladimir, ihr »Erzeuger«, sich einen legitimen Erben gewünscht hatte, einen Sohn also.
Nach der Hochzeit in Bacninh, dem Geburtsort ihrer Mutter, waren die Eltern auf die Krim gezogen. Dem frisch gebackenen Ehemann gehörte eine ganze Insel in der Syvas, einer seichten Meerenge im Norden der ukrainischen Halbinsel. Quynh wurde schwanger und gebar eine Tochter. Jetzt zeigte sich Wladimirs wahres Gesicht. Er nahm das Kind und warf es in den Schnee, es sollte erfrieren. Aber die Mutter schlich sich hinaus und versteckte die Kleine in einem Nonnenkloster. Später brachte Quynh Tong noch zwei weitere Mädchen zur Welt. Auch diese versuchte der enttäuschte Vater zu töten – in beiden Fällen mit Erfolg. Schließlich brachte er sogar die »nutzlose« Mutter um, die ihm »keine Söhne zu schenken vermochte«.
Das Dröhnen des Außenbordmotors übertönte Kim Tongs Schluchzen. David musste unweigerlich an Rebekka denken und gab der jungen Frau Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Nach einer Weile konnte sie ihren Bericht fortsetzen.
Dank der weisen Voraussicht der Mutter habe es ihr in dem Kloster an nichts gefehlt. Sie bekam eine gute Ausbildung, lernte Altgriechisch und sogar Französisch, weil Quynh die Sprache der einstigen Besatzungsmacht Vietnams als Voraussetzung für eine gehobene Lebensart ansah. Erst im Alter von sechzehn Jahren erfuhr Kim die ganze Geschichte von einer Bediensteten des Vaters, die eines Tages überraschend im Kloster erschienen war. Sie hieß Swetlana und hatte Kims Mutter früher als Zofe gedient. Doch nun war die alte Frau sterbenskrank und wollte mit der Beichte ihr Gewissen erleichtern. Bald darauf starb sie. Nun wusste niemand mehr von Wladimirs Tochter, abgesehen von ihr selbst.
Seitdem habe sie auf Rache gesonnen, gestand Kim Tong mit finsterer Miene. Sie hasse ihren Erzeuger und wolle ihn töten. Aber seine Insel gleiche einer uneinnehmbaren Festung. Deshalb suche sie seit Jahren nach einem Weg, ihn außerhalb seines Schlupfwinkels zu erwischen. Von der Zofe ihrer Mutter und auch durch eigene Nachforschungen habe sie von krummen Geschäften ihres Vaters erfahren. Hin und wieder reise er
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