Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
Baum?«
»Das ist unser Eingang.«
David leuchtete nach unten und erblickte die verrosteten Sprossen einer Leiter. Kim drückte die Sprechtaste an ihrem Walkie-Talkie und meldete: »Wir gehen jetzt rein. Ende und aus.«
Ali und Igor würden genau vier Stunden auf das nächste Lebenszeichen der beiden warten. Falls dieses ausblieb, sollten sie sich zurückziehen. David und Kim waren dann ganz auf sich allein gestellt.
Die Eisenleiter führte ungefähr acht oder zehn Meter tief ins Erdreich. Auf dem Grund angelangt, folgten sie einem Stollen, der in Richtung der Salzfeste verlief.
»Wladimirs Haus soll viele geheime Ausgänge haben«, flüsterte Kim und ging dem Lichtstrahl der Handlampe nach. »Einige von ihnen münden wie Biberhöhlen in die Faulige See.«
»Was für einen Sinn soll das haben? Ist dein Vater etwa Taucher?«, fragte David halb im Scherz.
»Keine Ahnung. Ich glaube, da vorne geht es wieder an die Oberfläche.«
Kim ließ den Lichtfinger der Taschenlampe zu einer weiteren Metallleiter wandern.
»Bist du sicher, dass uns da oben niemand überraschen kann?«
»Der Gang mündet in eine Gruft, die niemand betreten darf.«
»Und warum das?«
»Meine Mutter ist dort begraben.«
»Oh, verzeih bitte. Das hattest du mir noch nicht…«
»Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen, David. Du nicht.«
Schwang da noch etwas vom alten Rachegefühl in Kims Stimme mit? David war sich nicht sicher. »Reiß dich bitte zusammen, wenn wir da oben sind. Dein Vater wird bekommen, was er verdient.«
»Mach dir keine Sorgen.«
David blickte noch einen Moment in Kims grimmiges Gesicht, dann griff er nach der Leiter und kletterte voran.
Die Sprossen führten zu einem Steindeckel. David schob ihn zur Seite und entstieg dem Schacht im Schutz der Marmorstatue irgendeines Heiligen. Er befand sich in einer Nische der Gruft. Anschließend half er seiner Begleiterin heraus.
Quynh Tongs letzte Ruhestätte ähnelte einer Kapelle. Von den Wänden blickten leidende Gesichter herab. In der Mitte stand ein steinerner Sarkophag. Durch eine schmiedeeiserne Pforte konnte man das Wohnhaus erkennen, es war höchstens zwanzig Meter entfernt. Irgendwo brannte ein Licht, das den Kiesweg zwischen den beiden Gebäuden schwach erleuchtete.
»Da hinaus?«, flüsterte David und deutete auf die vergitterte Tür.
Kims Augen lagen auf dem Steinsarg ihrer Mutter. Ihr Gesicht sah aus wie eine Gipsmaske. Ohne zu antworten, wandte sie sich jäh ab und lief auf die Pforte zu. Ihre Hand streckte sich nach einem Eisenstab aus. Sie wollte schon die Tür nach außen stoßen, aber da wurde sie von David gepackt.
»Halt! Sie würde verräterisch quietschen.«
»Woher willst du das denn wissen?«, fragte Kim verärgert.
»Ich weiß es einfach. Lass mich nur machen.«
Unwillig ließ Kim das Gitter los und David widmete sich der Pforte. Sie war tatsächlich unverschlossen. Er konzentrierte sich auf die Zapfen der Scharniere. Sie wurden kalt und waren schließlich mit einer weißen Eisschicht überzogen, was im Dunkel der Nacht so gut wie unsichtbar blieb. Langsam und ohne einen Laut öffnete David das Tor.
»Von wegen verräterisches Quietschen!«, zischte die junge Frau.
»Wohin jetzt?«
Kim deutete nach rechts.
Auf leisen Sohlen huschten sie über den Kiesweg, Kraft der Verzögerung dämpfte David die Geräusche, die ihre Füße machten. Diese Stelle war für die Überwachungskameras, von denen Kim ihm erzählt hatte, nicht einsehbar. Sie gelangten zu einer verschlossenen Nebentür, die in den Dienstbotentrakt führte.
»Und was nun?«, raunte Kim.
»Jetzt kommt die sanfte Verzögerung.« Während sie ihn noch fragend anschaute, zerbrach David den Riegel der Tür, Es geschah so »sanft«, dass kaum etwas zu hören war. Leise ließ er die Tür aufschwingen, deutete in das Innere des Gebäudes und flüsterte: »Voilà, Madame!«
Kim sah ihn ungläubig an und betrat das Haus.
Sie folgten einem dunklen Gang. Nur hin und wieder ließ David kurz seine Lampe aufleuchten, um sich besser orientieren zu können. Obwohl Golizyns Haus seiner Tochter zufolge nicht älter als einhundertfünfzig Jahre war, ließen es die gemusterten Stofftapeten, die opulenten Stuckornamente an der Decke und die reichen Schnitzarbeiten an den Türen wie ein Bauwerk des Spätbarock erscheinen. Hinter einer weiteren Tür stieß das Paar auf eine große ovale Halle, das Entree des Palais. Zwei aus einer ganzen Reihe von elektrischen Kandelabern an den Wänden
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