Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
ging es mit dem Moskwitsch weiter. Kim saß auf dem Rücksitz, die beiden Männer vorn. David wünschte, möglichst schnell aus dem Grenzgebiet herauszukommen, aber der Türke ließ sich Zeit. Das Plastiklenkrad fest im Griff dozierte er über die hohe Kunst des Schmugglerhandwerkes. Übertriebene Eile sei der häufigste Anfängerfehler. »Du sollst nicht auffällig sein« das oberste Gebot. Hinter der nächsten Kurve stießen sie auf eine Straßensperre.
Fünf Soldaten in der Uniform der sowjetischen Armee bildeten zusammen mit einem auf Holz genagelten Stacheldrahtverhau ein unüberwindliches Hindernis. Der Moskwitsch rollte langsam darauf zu und blieb schließlich neben einem zum Halten auffordernden Posten stehen. David rechnete mit ernsthaften Komplikationen. Er beherrschte ja nicht einmal die Landessprache.
Ali kurbelte das Fenster herunter und begann wundersamerweise in Russisch auf den Uniformierten einzureden. Vier Maschinenpistolen waren auf die Insassen gerichtet. David saß stocksteif auf dem Beifahrersitz, starrte durch die Windschutzscheibe und lauschte nach innen. Sollte man auf sie schießen, würde er die Kugeln verlangsamen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich der Posten herabbeugte, um die Ausweispapiere der Fahrzeuginsassen zu kontrollieren. Seine fordernde Hand näherte sich dem Fenster. Auch ohne die barschen Worte des Mannes zu verstehen, wusste David, was er wollte. Mit der Rechten langte er in seine Brusttasche nach den falschen Papieren. Doch bevor er sie noch herausgeholt hatte, veränderte sich plötzlich der Ton des Grenzschützers.
»Gospodin Golizyn!«, stieß der Mann plötzlich hervor und riss die Augen auf. Es folgten einige unterwürfig klingende Worte, dann kehrte Stille ein. Der Posten starrte den weißhaarigen Beifahrer an, der noch immer kaum den Kopf gedreht hatte, auch Ali wandte sich ihm zu. Vermutlich hatte der Soldat etwas gefragt und wartete nun auf eine Antwort.
David war zu einer Salzsäule erstarrt. Was sollte er tun? In Ermangelung besserer Alternativen öffnete er den Mund und krächzte etwas, das mit menschlicher Sprache nun wirklich nichts zu tun hatte. In diesem Augenblick kam Kims Stimme aus dem Fond. Sie klang selbstbewusst, ja, geradezu herrisch. Und die Wirkung war verblüffend.
Der Posten wirkte mit einem Mal eingeschüchtert. Sein Schneid schien auf wundersame Weise verdunstet zu sein. Er verzichtete sogar auf eine Antwort, nickte nur, sagte etwas und schrie dann eine Anweisung in Richtung seiner Untergebenen. Im Nu war die Barriere zur Seite geschoben. Ali startete den Wagen und gab Gas.
David – noch ganz blass – drehte sich endlich um, damit er in Kims Gesicht blicken konnte. Sie lächelte unter ihrem Kopftuch hervor.
»Sie haben mich für Golizyn gehalten, nicht wahr? Aber was hast du ihnen erzählt?«
»Nichts weiter. Nur, dass der große Held der Sowjetunion auf geheimer Mission sei und derzeit nicht mit ihnen sprechen könne – eine bedauerliche Folge seines wagemutigen Einsatzes.«
»Und das war alles?«, fragte David ungläubig.
»Nicht ganz«, warf Ali vom Steuer her ein. Sein Blick haftete auf dem Waldweg. »Sie hat ihnen gesagt, der Salzmann bringe die Ernte ein.«
David schüttelte verwirrt den Kopf. »Irgendwie habe ich das Gefühl, im falschen Film zu sein.«
Ali blickte nur fragend in den Rückspiegel.
»Das ist ein geflügeltes Wort«, erklärte Kim von der Rückbank her. »Die Menschen in der Syvas sagen, sie ›ernten‹ ihr Salz. Es gibt eine alte Legende über den Salzmann, einen Geist, der durch die Sümpfe streift und unliebsame Zeitgenossen einpökelt…«
»Er tut was?«
»Saler – Ist das nicht das französische Wort dafür? Der Salzmann überzieht jeden, der ihm nicht passt, mit einer weißen Kristallkruste, unter welcher der Arme ewig gefangen bleibt. Wenn auf der Nord-Krim jemand in einem Dorf spurlos verschwindet, sagen die Leute, der Salzmann habe wieder seine Ernte eingebracht.«
David kämpfte gegen einen Schauder an. »Nette Geschichte. Und was hat das mit deinem Vater zu tun?«
»Ich erzählte dir ja schon, dass er des Öfteren ins kapitalistische Ausland reist. Er ist ein hoher Funktionär der Partei. Wie ich erfahren habe, soll er hin und wieder Geheimdienstoperationen leiten. Swetlana sagte, wenn der Salzmann seine Ernte einbringt, dann wissen sowohl die Funktionäre wie auch die Militärs, was die Stunde geschlagen hat. Es sei wie eine Losung, wie ein Befehl vom Zaren persönlich.«
»Du meinst
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