Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
Boden herumgelegen hatten. Im Geiste wappnete er sich gegen einen furchtbaren Anblick. Doch diesmal fand er keine Leiche. Kazuaki Okazaki war spurlos verschwunden.
David ließ sich niedergeschlagen auf die morsche Tatami sinken. Ohnmächtige Wut stieg in ihm hoch. Wohin er auch ging, was er auch tat, sein Gegner schien ihm immer einen Schritt voraus zu sein.
Nach zwei Stunden vergeblichen Wartens verließ er Okazakis Hütte und fragte in der Nachbarschaft nach dem nervösen kleinen Mann. Entweder wollte oder konnte niemand dem weißhaarigen Europäer verraten, wo Okazaki zu finden war. Einige begründeten ihre Unwissenheit mit dem Verweis, der Bewohner der heruntergekommenen Kate sei ein schweigsamer und ziemlich zurückgezogen lebender Mensch.
Frustriert steuerte David seinen Mietwagen nach Tokyo zurück. Früher hatte Hirohitos Sohn Akihito auf seinem Knie geschaukelt. Es wurde Zeit, dass David den jetzigen Tenno daran erinnerte. Er wollte am Hof und bei verschiedenen Behörden seine Beziehungen spielen lassen, um etwas über Kazuaki Okazakis Verschwinden herauszubekommen. Erstaunlich schnell erhielt David eine Privataudienz beim Kaiser. Akihito freute sich aufrichtig, den alten Freund seines Vaters wieder zu sehen, und sicherte David seine volle Unterstützung zu. Mehr denn je sei das Amt des Mikado jedoch ein eher repräsentatives. Der Giftgasanschlag habe Japan in seinen Grundfesten erschüttert. In einer so heiklen Angelegenheit geheime Ermittlungsergebnisse an einen Ausländer weiterzugeben sei nicht ganz unproblematisch. Deshalb müsse selbst er, der Tenno, sehr diplomatisch vorgehen. Einige Tage müsse David sich mit einer Antwort schon gedulden.
Nach einem nicht sehr ergiebigen Telefonat mit Lorenzo beschloss David kurzerhand, in die Vereinigten Staaten zurückzufliegen. Er musste einige wichtige Dinge in Gang bringen und die neue Situation mit seinen engsten Freunden und Ratgebern besprechen.
Warum hatte sich ein Logenbruder Belials persönlich um diese Serie vergleichsweise unbedeutender Giftgasanschläge in Japan gekümmert? Das war die Hauptfrage, die es zu klären galt. Der Kreis der Dämmerung bestand doch neben Belial nur noch aus Kelippoth und dem namenlosen Phantom aus Lorenzos Porträtsammlung. Angesichts der beschränkten Schlagkraft erschien Kelippoths direktes Engagement wie pure Zeitverschwendung. Es musste doch noch mehr An Chung-guns geben, mehr willfährige Helfer des Schattenlords, die sich für solche Zwecke einspannen ließen. Nein, da steckte etwas anderes dahinter, dessen war sich David ganz sicher. Der wirkliche Plan musste von erheblich größerer, vielleicht sogar globaler Dimension sein. Die Nachrichtenfarm in Westport sollte eine neue Aufgabe bekommen, die Computer und graue Zellen gleichermaßen zum Glühen bringen würde. Das konnte nicht von der anderen Seite der Erde aus organisiert werden. Dieses vielleicht größte und letzte Projekt von Davids Bruderschaft erforderte seine Anwesenheit vor Ort.
Am Morgen des 1. Juni frühstückte David in aller Ruhe im Fairmont Hotel, das ihm in Tokyo zuletzt als Hauptquartier gedient hatte. Es lag im Nordosten des Kaiserpalastes. Bis zum Start seines Flugzeuges hatte er noch etwas Zeit. David wählte ein englisches Frühstück, wie es der vor sechs Jahren verstorbene Tenno immer so geschätzt hatte. Gemächlich vor sich hin kauend las er die Morgenzeitung. Hin und wieder spähte er über den Rand seiner Yomiuri Shimbun und musterte die anderen Hotelgäste.
So auch jetzt, als ihm drei Tische weiter eine junge Frau auffiel – und das Blatt seinen Händen entglitt. Er starrte auf die Fremde wie auf eine Fata Morgana. Unweigerlich musste er an die beklemmende Vision denken, die er nach Rebekkas Tod auf den Klippen in Cornwall gehabt hatte. Aber dort, nur wenige Meter entfernt, saßen nicht etwa er und Rebekka – sondern sie allein.
Die junge Frau mit der unbändigen schwarzen Lockenpracht trug ein Tuch über den Schultern, das David aus tausenden hätte herausfinden können. Es war dicht gewebt, blaugrundig und mit einem Karomuster aus dicken grünen sowie sehr dünnen rotbraunen Streifen versehen. Dieses Karo gehörte zur Familie Murray von Atholl wie das Stammschloss Blair Castle. John George Stewart-Murray, der achte Duke of Atholl, hatte Rebekka zur Vermählung einen solchen Tartan geschenkt.
David drückte sich langsam vom Frühstückstisch hoch. Er fühlte sich – eine ganz neue Erfahrung – wie ein Fünfundneunzigjähriger.
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