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Der Krieg, der viele Vaeter gatte

Der Krieg, der viele Vaeter gatte

Titel: Der Krieg, der viele Vaeter gatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schultze-Rhonhof
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ADAP, Serie D, Band VII, Seiten 171/172
    Das nächste Protokoll dieser Hitler-Rede, das der Gerichtshof als Beweis heranzieht, ist ein zweiteiliges Dokument 73 . Es hat weder Kopf noch Datum, kein Aktenzeichen, keine Tagebuchnummer, keinen Geheimvermerk und es trägt auch keine Unterschrift. Bei Gericht kann niemand sagen, wer es verfaßt hat und woher es stammt 74 . Später widersprechen sich die Anklagevertreter sogar mit zwei verschiedenen Herkunftsorten. Der Verteidiger des Großadmirals Raeder, Dr. Siemers, macht – so ist es in den Gerichtsakten von Nürnberg nachzulesen – das Militärtribunal darauf aufmerksam, daß die erste Hälfte dieses neuen Dokumentes auf dem selben Papier und mit der selben Schreibmaschine geschrieben worden ist, wie die erste, von den Anklägern bereits zurückgezogene FalschVersion 75 . Das Gericht läßt das jedoch nicht als Zweifel an der Zuverlässigkeit und der Echtheit des Dokumentes gelten und beharrt auf der Beweiskraft des Papiers.
    Das Brisante an diesem zweiten Dokument sind, wie beim ersten, die zynischen Aussagen und Redewendungen – angeblich aus dem Munde Hitlers –, die, wenn sie denn so gesprochen worden sind, die zuhörende Generalität aufs Schwerste kompromittieren. Die zweite Version ist heute in allen maßgeblichen Geschichtswerken und Dokumentenbänden Deutschlands nachgedruckt 76 . Schulgeschichts- und Gemeinschaftskundebücher vermitteln Schülerinnen und Schülern mit den markigsten Zitaten aus diesem „Dokument", daß Hitler Krieg um jeden Preis mit Polen wollte, und daß die deutsche Generalität dies schweigend und billigend so hingenommen hat.

    Im Archiv der Hitler-Reden des Archivdirektors Dr. Max Domarus wird diese zweite Version als die wortgetreuste Wiedergabe jener Rede dargestellt und mit vollem Wortlaut abgedruckt. Domarus kommentiert das so:
    „An der Echtheit ist nicht zu zweifeln, da über diese Rede zwei weitere
    Niederschriften existieren: die Aufzeichnung des Generaladmirals Her
    77 mann Boehm und der Tagebucheintrag von Generaloberst Halder".
    Hier irrt Domarus, denn gerade Generaladmiral Boehm hat diese zweite Version durch Vergleiche mit seinem eigenen Protokoll als Fälschung bloßgestellt.

    Generaladmiral Boehm ist am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg einer der Zuhörer Adolf Hitlers. Er schreibt die Rede stichwortartig mit und hält die Kernaussagen Hitlers dabei in ihrem Wortlaut fest. Noch am gleichen Abend fertigt er aus den Notizen sein Protokoll, das in der Erwähnungsreihenfolge dieses Buchs die Nummer drei ist. Boehm gibt das Protokoll an seinen Vorgesetzten Raeder. Der liest es, bestätigt es als richtig und zeichnet das Papier ab. Als Raeder sechseinhalb Jahre später, am 16. Mai 1946 in Nürnberg mit der zweiten

    IMT Dokumente 798-PS/US-29 (erste Redehälfte) und 1014-PS/US-30 (zweite Redehälfte)
IMT Verhandlungen, Band XIV, Seite 55
IMT Verhandlungen, Band XIV, Seite 55
z. B. ADAP, Serie D, Band VII, Seiten 167 ff und Domarus, Band 2, Seiten 1233 ff und Jacobsen,
Seiten 98 ff
Domarus, Band 2, Seite 1233
    Version der besagten Hitler-Rede konfrontiert wird, sagt er sofort, daß viele der Formulierungen in diesem „Protokoll" nicht stimmen. Worte – so Raeder – wie
    „ Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist Beseitigung der lebendigen
    Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie" oder „Herz ver
    schließen gegen Mitleid, brutales Vorgehen"
    seien nicht gefallen 78 . Er macht geltend, daß sich die deutschen Oberbefehlshaber die Erwähnung eines solchen Kriegsziels bei Kriegsbeginn nicht hätten gefallen lassen. Raeder entsinnt sich des Boehm-Protokolls und verlangt, den Generaladmiral als Zeugen zu vernehmen. Der Anwalt Raeders, Dr. Siemers, stellt den Antrag, Boehm als Zeugen vorzuladen. Die Richter lehnen ab. Daraufhin vernimmt Dr. Siemers Boehm, fertigt eine Vernehmungsniederschrift und läßt den Generaladmiral eine eidesstattliche Erklärung abgeben. Beides, Vernehmungsniederschrift und Erklärung legt Siemers dann dem Nürnberger Gericht als Entlastungsdokument „Raeder Nr. 129" vor 79 . Interessant ist nun, daß Boehms Anhörung zwar im Verhandlungsprotokoll des Gerichts mit Tag, Verhandlungsgegenstand und Dokumentennummer aufgeführt ist, im Dokumentenband des IMT aber nicht erscheint. Sie fehlt. Die Nürnberger Richter haben es vermieden, die Demontage ihrer „Schlüsselrede" als Beweisstück aktenkundig mit zu überliefern. Die sehr aufschlußreiche Anhörung des Generaladmirals ist

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