Der Krieg, der viele Vaeter gatte
schinden. Das paßt nicht zueinander. Man kann hier nur vermuten, daß Chamberlain seine eigentliche Befürchtung an diesem 30. August versehentlich entschlüpft, daß Hitler so lange warten könnte, bis Polen einen Krieg auslöst. Dann stünde England völkerrechtlich außen vor und hätte keine Legitimation, in einen Krieg mit Deutschland einzutreten. Daß ein Gedanke dieser Art bei Chamberlain nicht aus der Luft gegriffen wäre, zeigt der letzte Schritt der Polen. Sie haben gegen Englands Rat mobilgemacht.
Um 12.40 Uhr informiert Göring telefonisch aus der Reichskanzlei Dahlerus, der noch immer mit den Briten konferiert. Göring kündigt an, daß Hitler höchstwahrscheinlich ein Plebiszit für die Bevölkerung im Korridor vorschlägt, so daß die selbst entscheiden kann, ob ihr Gebiet nun polnisch oder deutsch sein soll. Des weiteren teilt Göring mit, daß ein Auswanderungsrecht für die Minderheiten vereinbart werden soll, die nach der Ziehung neuer Grenzen auch weiter außerhalb des eigenen Volks verbleibt. 342
Göring und Dahlerus bemühen sich vergeblich, die Briten als „Vermittler" anzustoßen, die Polen mit Hilfe dieser Vorschläge zum Verhandeln zu bewegen. Chamberlain entläßt Dahlerus ohne weitere Botschaft an Hitler, von Ribbentrop oder Göring, und der schwedische Vermittler fliegt nach Berlin zurück.
Dort ist mittags der neue Vorschlag für die polnische Regierung fertig. Hitler hat die früheren deutschen Wünsche aus der Zeit seiner demokratischen Vorgängerregierungen weit zurückgefahren. Ost-Oberschlesien und die Provinz Posen sind endgültig abgeschrieben. Auch in Bezug auf Westpreußen und den Korridor hat er die Forderungen, die er noch vor vier Tagen gegenüber Henderson geäußert hat, wieder reduziert. Hitler will offensichtlich die Briten mit einem sehr moderaten Vorschlag überzeugen, so daß die guten Gewissens die Polen drängen können. Dennoch, der neue Vorschlag verlangt mehr für Deutschland als der von Polen ausgeschlagene März-Vorschlag Hitlers. Die Auflistung der deutschen Wünsche und Angebote umfaßt 16 Punkte. 343
Dazu gehören: ● Danzig kehrt heim ins Reich.
● Im nördlichen Korridor soll die Bevölkerung in einer Abstimmung selbst ent
scheiden, ob das Gebiet polnisch oder deutsch wird.
● Die Hafenstadt Gdingen bleibt dabei auf jeden Fall polnisch.
● Je nach Abstimmungsergebnis im Korridor erhält entweder Deutschland ex
territoriale Verkehrswege nach Ostpreußen oder Polen exterritoriale
Verkehrswege nach Gdingen.
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Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 519 343
ADAP, Serie D, Band VII, Dokument 458
Karte 35: Die deutschen Vorschläge vom 30. August 1939
(wie Karte 33)
● Die in Danzig für Polen gewünschten Sonderrechte werden ausgehandelt und
Deutschland gleiche Rechte in Gdingen zugestanden.
● Die Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen und die der polnischen
Minderheit in Deutschland werden einer internationalen Kommission unter
breitet und von dieser untersucht. Beide Nationen zahlen Entschädigungen
an betroffene Geschädigte nach Maßgabe der Kommission.
● Im Falle einer Vereinbarung nach diesen Vorschlägen demobilisieren Polen
und Deutschland sofort ihre Streitkräfte.
Der Vertragsvorschlag ist so ausgelegt, daß er sowohl die unglückliche, in Versailles verfügte Abtrennung Ostpreußens vom Deutschen Reich beendet, als auch den freien Zugang Polens zur Ostsee sicherstellt. Außerdem wahrt er das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen polnischen, kaschubischen und deutschen Bevölkerungsanteile in einer zeitgemäßen Weise. Aber so neuzeitlich und demokratisch die vorgeschlagene Regelung auch ist, für den Vielvölkerstaat Polen mit seinen nicht integrierten Minderheiten birgt er eine ungeheure Sprengkraft. Die ukrainische, die weißrussische und die tschechische Minderheit könnten dem deutschen Beispiel später folgen und das von ihnen ungeliebte Polen ebenfalls mit regionalen Volksabstimmungen verlassen wollen.
Der 30. August, der Mittwoch vor dem Kriegsausbruch, vergeht, ohne daß ein polnischer Unterhändler in Berlin erscheint, um den neuen Verhandlungsvorschlag Hitlers in Empfang zu nehmen. Im Auswärtigen Amt und bei den Soldaten der inzwischen voll aufmarschierten Wehrmacht steigen Spannung und Nervosität. Man ist sich selbst in Hitlers nächster Umgebung nicht klar darüber, ob der „Führer" Krieg will oder Erfolg auf dem Verhandlungsweg. So hängt an diesem Tage
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