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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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eigenen Ohren unverständlich. Albric erkannte nicht, ob Bitharn ihn verstanden hatte, aber er musste es versuchen. »Schatten. Haben sie beide geholt. Verletzt … schwer verletzt. Hätte sterben sollen.« Er kämpfte um einen weiteren Atemzug. In seinen Ohren rauschte das Brausen gewaltiger Wellen. »Mirri. In meinem Zelt. Ghule haben sie erwischt. Sie braucht Hilfe.«
    Bitharn nickte, und Albric gab die unmögliche Anstrengung zu sprechen auf.
    Es schneite wieder. Er wusste nicht, wann es begonnen hatte. Es war nur ein leichter Schneefall: weiches Weiß, das von einem perlgrauen Himmel herabschwebte. Schneeflocken klebten auf seinen Wimpern und fielen auf seine Augen, und er hatte nicht die Kraft, sie wegzublinzeln. Die ersten schmolzen; er spürte sie warm wie Tränen über sein Gesicht rinnen.
    Dann schmolzen sie nicht mehr. So kalt war er bereits.

19
    Den Ritt von Tarnebrück nach Distelstein behielt sie nur verschwommen im Gedächtnis.
    Bitharn erinnerte sich daran, dass sie die Lichtung umkreist hatte, auf der Kelland und die Dornenlady gekämpft hatten, und dass der Leichnam des Mannes, der die Dorne verraten hatte, langsam vom Schnee bedeckt worden war. Sie erinnerte sich an den Versuch, den Kampf anhand der Spuren zu rekonstruieren, und daran, dass es ihr halbwegs gelungen war, bis alle Fährten an den Leichen endeten oder sich in Luft auflösten. Sie erinnerte sich daran, in Albrics Zelt gestürmt zu sein, wo sie Mirri gefunden hatte, bereits kalt wie der Tod; in ihrer Bluse steckte Albrics Geständnis.
    Das Geständnis erklärte alles und nichts. Bitharn nahm es mit, weil sie keine anderen Hinweise hatte. Sie nahm auch Kellands Schwert mit; sie hätte es nicht ertragen, es bei den Toten liegen zu lassen. Dann brach sie auf nach Distelstein, als sei ihr ein Trupp baozitischer Räuber auf den Fersen.
    An diesen Teil erinnerte sie sich so gut wie gar nicht.
    Die Heiler in der Kuppel der Sonne hatten ihr einst erklärt, dass große Schocks wie heiße Flammen auf den Geist des Betroffenen wirken und Erinnerungen so plötzlich und unauslöschlich entfachen konnten wie ein Blitz, der Narben an Bäumen zurückließ, in die er eingeschlagen hatte. Das war der Grund, warum alte Männer sich an das Parfüm ihrer ersten Geliebten erinnerten, warum die Überlebenden niedergebrannter Dörfer noch nach zehn Jahren des Friedens die Gesichter ihrer Angreifer zu erkennen vermochten.
    Wie Bitharn jedoch erfuhr, traf auch das Gegenteil zu: Manchmal gab es anstelle lebhafter Erinnerungen bloß einen undurchdringlichen Nebel. Manchmal schreckte der Geist davor zurück, an solchem Schmerz festzuhalten, oder er konnte ihn einfach nicht fassen und diese Erinnerung daher auch nicht zurückrufen. Sie lag schwarz und vergraben am Grund der eigenen Seele, zu schwer, um an die Oberfläche gezerrt zu werden.
    Flüchtige Bilder waren alles, was ihr von diesem höllischen Ritt im Gedächtnis blieb: Tage des Schnees und der dumpf pochenden Verzweiflung, Mirris Körper wie ein Eisblock vor ihr, hastig im Sattel heruntergeschlungene Mahlzeiten. Bitharn war immer vorsichtig mit ihrem Pferd gewesen, aber auf diesem Ritt hätte sie das arme Tier beinahe umgebracht; sie schonte es nur ein wenig, weil sie es sich nicht leisten konnte, zu Fuß zu gehen, wenn seine Kräfte am Ende wären.
    Schließlich, als sowohl Pferd wie auch Reiterin dem Zusammenbruch nahe waren, erreichten sie die niedrigen Türme von Distelstein.
    Die Burgstadt war noch voller als am Schwerttag. Ein halbes Hundert Banner flatterte an den Zelten und Pavillons, die den Hügel der Burg wie farbenprächtige Blüten in einem Kranz umringten. Jedes Gasthaus der Stadt trug ein Banner und die meisten der größeren Häuser ebenfalls; Fahnen aus Seide und schwerer Baumwolle flatterten in der Brise. Darauf zu sehen waren die Wahrzeichen fahrender Ritter ebenso wie die Krone und Sonne von Craighail. Sie hörten sich an wie ein Schwarm Tauben, die alle gleichzeitig in die Luft stiegen, und doch wurde dieser Lärm noch übertönt vom Getöse auf den Straßen.
    Überall in Distelstein stolzierten Soldaten umher, prahlten Bogenschützen und lachten Huren verlockend. Schweine und Schafe brüllten, die vom Land zur Versorgung der Armeen herbeigebracht und geschlachtet wurden. Pfeilmacher arbeiteten in den Straßen mit Körben voller Gänsefedern vor den Füßen, sorgfältig aufgeteilt in Körbe für linke und rechte Flügelfedern, sodass kein Pfeil Federn von beiden Seiten bekommen würde.

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