Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Sie nörgelt also immer, und andauernd droht sie mir, mich sitzenzulassen. Bis vor zwei Wochen. Vor zwei Wochen hat die Nörgelei aufgehört.“
Ich wurde hellhörig. „Tatsächlich? Was hast du denn gemacht, dass sie aufgehört hat zu nörgeln?“
„Ich?“ Der Barmann wies auf seine Brust. „Gar nichts. Ich habe nichts geändert, ich habe das Gleiche gemacht wie bisher.“
„Ich verstehe“, nickte ich. „Mein guter Mann, ich sage es ungern, aber du bist in Schwierigkeiten: Deine Ehefrau hat einen Liebhaber.“
Dong schüttelte den Kopf. „Dachte ich auch erst. Wenn meine Frau der Mann wäre und ich meine Frau, hätten Sie wahrscheinlich recht. Aber sie ist die Frau, und ich kenne meine Alte. Vorhin wurde mir plötzlich klar, woran es wirklich liegt. Vor genau zwei Wochen war sie nämlich auf so einer Art Party. Allein, ich war nicht dabei, und nach der Party hat sie mir erzählt, wie es sie gestört hat, dass die Männer alle um die jungen Mädchen rumgeschwirrt sind. Ich verstand damals nicht, warum es sie gestört hat und habe sie auch nicht gefragt, weil es mich nicht interessiert hat. Aber vorhin wurde mir klar, warum es sie gestört hat: Weil keiner von den Männern um sie herumgeflattert ist, sondern alle sich für die jungen Mädchen interessierten. Also hat sie sich gedacht – was vielleicht auch nicht falsch ist –, dass die Männer auf junge Frauen stehen und sie keinen mehr abkriegen würde. Sie hat also gemerkt, dass sie mich gar nicht verlassen könnte, selbst wenn sie wollte. Sie hat also keinen Liebhaber, sondern das Gegenteil: Sie könnte keinen kriegen, selbst wenn sie einen wollte.“
Dong zog kurz die Stirn kraus, während er nachdachte. „Aber es ist auch wieder nicht das Gegenteil, denn ob sie nun wirklich einen Liebhaber hat oder nur merkt, dass sie keinen bekäme – in beiden Fällen geht es nicht um mich und darum, wie ich sie sehe, sondern nur darum, wie sie glaubt, dass andere Männer sie sehen. Für mich sieht sie nicht anders aus, egal was sie denkt, wenn sie sich im Spiegel sieht ... das ist das Gleiche wie mit dem Glas Bier. Der eine sieht Imperial Pale Ale und denkt ‚widerlich, ein Pale Ale und dann noch warm ‘ , und ein anderer denkt ‚ein zimmerwarmes Glas Imperial Ale, genau das, was mir am besten schmeckt ‘ , und beide sehen das gleiche Glas Bier.“
„Du hättest nicht Barmann werden sollen, sondern Philosoph“, sagte ich.
„Wo ist denn da der Unterschied?“, lachte Dong und hob die Flasche mit dem Pflaumenwein, um mir nachzuschenken.
Doch ich hielt meine Hand über die Schale. „Nein danke. Für heute ist genug philosophiert. Was schulde ich dir?“
Dong griff nach dem Abakus. „Achtzehn Pennies. Der Pflaumenwein geht aufs Haus.“
Ich nickte und warf zwei Schilling auf die Theke. „Behalt den Rest. Auch wenn du es nicht geschafft hast, davon abzusehen, mich dauernd mit dämlichen Fragen zu nerven.“
Dong lachte und strich die zwei Schilling ein. Während er sein Metallkästchen öffnete, fragte er beiläufig: „Eins würde mich aber doch noch interessieren. Sie brauchen mir ja keine Antwort zu geben, wenn es Ihnen Unbehagen bereitet, und vielleicht wissen Sie es ja auch gar nicht. Aber wenn Sie es wissen, dann würde es mich interessieren, und zwar: Woran liegt es denn eigentlich, dass Ihre Frau Sie hasst?“
„Tja, das ist im Grunde wirklich einfach zu erklären.“ Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging zum Segel, das zum Ausgang führte. Dort drehte ich mich noch einmal um. „Wilberforce war ihr Bruder.“
Miss Niobe
Im Tempel
D er Tempel war ein dreistöckiges Bauwerk aus weißem Marmor, das an ein luxuriöses Patrizierhaus erinnerte. Über ein zweiflügliges Tor gelangte man in einen weiträumigen Innenhof. Aus zahlreichen Fenstern fiel Licht in ihn, so dass man die kunstvollen Mosaike erahnen konnte, die ihn mit konzentrischen Kreisen, Dreiecken und astrologischen Symbolen schmückten. Eine silberne Spur paralleler Furchen störte die Ruhe der Mosaike, wo vor nicht allzu langer Zeit etwas das Pflaster beschädigt hatte. Im hinteren Teil des Hofs brannte eine Gaslaterne und ließ die feuchten Steine glänzen, über denen eine dünne Nebelschicht hing. Neben der Laterne stand ein Landauer, die beiden Rappen davor unbeweglich wie Statuen; nur gelegentlich sah man den Dampf ihrer Nüstern emporsteigen. Der Kutscher saß zusammengesunken auf seinem Bock und hatte den Kragen seines Mantels gegen die unerwartete
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