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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Kälte hochgeschlagen. In den schattigen Winkeln des Hofs schimmerten kleine Hügel von Eiskörnern, Überreste des heutigen Unwetters.
    Das Dach des Tempels war nass und kalt vom Regen, und es war nicht einfach, Halt auf ihm zu finden. Ich gab jedoch nicht vor, etwas anderes als eine Einbrecherin zu sein; dies war nicht das feine London, sondern die zwielichtige Schattenwelt seiner Verschwörer, und wenn die Loge mich erwischte, wie ich auf ihrem Dach herumkletterte, wäre dies in jedem Falle das Aus für mich und meine Existenz in dieser Stadt – und wahrscheinlich auch für meine Freundschaft mit Lord Bailey, oder was davon noch geblieben war.
    Ironischerweise benutzte ich dafür die Mittel und Fähigkeiten, die mir die Loge selbst zur Verfügung gestellt hatte: meinen nachtschwarzen Anzug, den Bailey als Maid-Marian-Kostüm bezeichnet hatte, die Kletterausrüstung und das Werkzeug, und das schlanke, indische Vaal auf meinem Rücken, das allein schon mehr wert war, als die besten Diebe von Whitechapel je zu erbeuten hoffen konnten. Ich hoffte, dass ich es nicht brauchen würde, aber ich war viel zu lange nachlässig gewesen.
    Was immer ich für Bailey war, für die Loge war ich nie mehr als ein nützlicher Aktivposten gewesen: ein indisches Bastardkind, ein rechtloses Wesen, das eigentlich nie hätte existieren dürfen, und das auf die Gnade und Unterstützung der Gesellschaft angewiesen war. Dass ich darüber hinaus einen der vermissten Shila besaß, schürte ihr Misstrauen, aber Bailey, der ihnen nie erzählt hatte, dass er es gewesen war, der mir den Stein gegeben hatte, hatte sie überzeugt, dass ich eine besondere Begabung besäße, die weitere Studien rechtfertige, und dass ich ihnen in der Zwischenzeit viele Pforten öffnen könnte, die ihnen sonst verschlossen blieben, denn zwei Dinge, die man unter Freimaurern vergeblich suchte – trotz aller Rede von der Perfektionierung des Selbst –, waren die Gewandtheit und die Waffen einer Frau.
    Ich verdankte der Loge viel. Sie hatte sich um meine Bildung gekümmert und mir meine Lehrer zur Verfügung gestellt: für klassische Literatur und Musik, Naturwissenschaften, den Reitsport und einige seltenere Fähigkeiten. Bailey hatte darauf bestanden, dass ich die Grundzüge des Kalarippayattu erlernte, einer alten indischen Kampfsportkunst, die die Briten in Indien nach einer Reihe schlechter Erfahrungen schon verboten hatten. Mein Stundenplan war gut gefüllt gewesen, und die ersten Jahre meines Londoner Lebens wären den meisten Kindern meines Alters wohl alles andere als angenehm erschienen. Für mich jedoch waren sie das Paradies gewesen.
    Es hatte eine Weile gedauert, bis ich erkannt hatte, dass an der Themse dieselben Ungleichheiten existierten wie im Gangesdelta. Das Elend im East End hatte eine andere Farbe als das in Kalighat, aber hier wie dort waren es die Macht und die Willkür der herrschenden Klasse, die den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuteten, und indem sie mich meiner Heimat entrissen und in diese neue Welt verpflanzt hatten, war ich zu ihrem Spielball geworden.
    Mit zwölf bespitzelte ich reiche Herren auf der Rennbahn. Mit vierzehn brach ich in die Behausungen unliebsamer Kabinettsmitglieder ein. Mit siebzehn wickelte ich ihre Söhne um den Finger, und mit zwanzig spielte ich die Leibwächterin auf wichtigen Anlässen, um die Geheimnisse meiner Klienten an meine Auftraggeber weiterzureichen. Mein Kontakt zur Loge war immer Bailey gewesen; eine Handvoll weiterer Mitglieder wie Sir Malcolm kannte ich vom Sehen, aber mit den wenigsten hatte ich je mehr als drei Sätze gewechselt. Den Logenmeister hatte ich nie kennengelernt. Bailey versuchte, mir Ärger zu ersparen und mir zugleich ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Manchmal war es schwer zu sagen, ob er mich protegierte oder mit mir schacherte. Aber bisher hatte er es geschafft, dass alle Seiten – außer die Leidtragenden meiner verdeckten Aktivitäten natürlich – mit dem Arrangement zufrieden waren.
    Bis zu diesem Tag. Ich musste herausfinden, was gespielt wurde: was Bailey und seine Brüder im Schilde führten, und was die Loge, Frans und Captain Royle mit dem Palast verband. Ich spürte, dass gefährliche Zeiten bevorstanden, so wie man als Londoner das heraufziehende Wetter zu spüren lernt; und wenn ich etwas in Kalighat gelernt hatte, dann, dass man sich besser ein Schlupfloch suchte, bevor der Monsun losbrach.
    Da war aber auch noch etwas anderes, ein Impuls, den ich in

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