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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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davonlaufen.“
    „Davonlaufen? Was heißt hier davonlaufen?“
    Dong erkannte, dass er nicht die optimale Formulierung gefunden hatte. „Na ja, ich glaube, dass es etwas gibt, das Sie beschäftigt, mit dem Sie sich aber nicht beschäftigen wollen.“ Dong sah mich an. „Etwas nagt an Ihnen, und es ist nicht der Opiumkrieg.“
    Ich zuckte wieder einmal die Achseln. „Ich habe einfach keine Lust, nach Hause zu gehen.“
    Der Barmann nickte mitfühlend. „Ich üblicherweise auch nicht. Nicht, wenn ich daran denke, dass zu Hause die Alte auf mich wartet, um mir zu erzählen, was an ihrem langweiligen Tag alles nicht passiert ist. Oder, noch schlimmer, sie sitzt da mit der offenen Wunde. Wem geht es nicht so?“
    „Mir geht es nicht so.“
    „Ah“, nickte Dong. „Leere Wohnung, kaltes Bett, keine Frau. Auch nicht schön.“ Der Barmann sah mich voller Anteilnahme an. „Ist aber manchmal wirklich besser, das können Sie mir glauben, auch wenn es Ihnen vielleicht nicht so vorkommt. Zu viel Stille ist wahrscheinlich angenehmer, als immer die gleiche Stimme zu hören, die man nicht mehr hören will.“ Er begann, die Schilling- und Pennystücke wieder in sein Kästchen einzuordnen. „Außerdem: Sie haben sich ja selbst dafür entschieden, ohne Freunde zu sein. Wer ohne Freunde sein will, darf sich über das Alleinsein nicht beklagen.“
    Ich fürchtete, der Barmann wolle mir in all seinem Verständnis eine mitfühlende Hand auf die Schulter legen und warf ihm einen scharfen Blick zu. Dann hielt ich ihm meine Hand vor Augen und schnippte mit dem Daumen am Ehering.
    „Da lag ich wohl wieder falsch“, meinte Dong. „Was ist es dann?“
    „Meine Frau hasst mich.“
    „Oh.“ Dong schien über die Direktheit meiner Aussage schockiert. „Hasst Sie sie wirklich, oder ist sie nur derzeit aus irgendeinem Grund schlecht auf Sie zu sprechen?“
    „Überleg es dir selbst. Wir sind seit zwölf Jahren verheiratet, und seit bald zehn Jahren haben wir nicht mehr ... du weißt schon was.“ Ich musste beinahe lachen, als mir meine eigenen Worte die Absurdität meiner Ehe vor Augen hielten.
    Dong nickte traurig und enthielt sich einer Antwort. Stattdessen fragte er: „Wie stehen Sie zu Ihrer Frau?“
    „Ich hasse sie nicht.“
    „Aha. Ist das alles? Ihre Gefühle beschränken sich darauf, Ihre Frau nicht zu hassen?“
    „Ich bin gerne mit ihr zusammen und würde mir wünschen, dass auch sie gerne mit mir zusammen wäre.“
    Dong begann geistesabwesend, Gläser umzusortieren. „Sind Sie gerne mit ihr zusammen oder lieben Sie sie?“, wollte er wissen.
    Mir wurde klar, dass es mir recht leicht gefallen war, dem Barmann gegenüber zuzugeben, dass meine Frau mich hasste. Aber es fiel mir schwer zuzugeben, dass ich meine Frau liebte. Ich wusste es. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht sagen. Vielleicht hätte es offen auszusprechen bedeutet, dass ich eine Schwäche oder Verwundbarkeit zugab, die ich nicht zugeben wollte. Weder vor dem Barmann noch vor mir selbst.
    Ich gab Dong keine Antwort. Stattdessen sagte ich: „Ich denke, es wird langsam Zeit, dass ich den Rückzug antrete“, und verlangte nach der Rechnung. „Die Dinge sind nun mal so, wie sie sind. Da kann man nichts dran ändern.“
    Dong begann, mit einem chinesischen Abakus herumzurechnen. „Das glaube ich nicht“, meinte er. „Ich glaube vielmehr, niemand weiß, wie die Dinge wirklich sind. Wir sehen sie nur immer auf eine bestimmte Weise. Das heißt nicht, dass sie in Wirklichkeit nicht vielleicht ganz anders sein können.“
    Ich griff nach meiner Geldbörse. „Chinesischer Nonsens!“
    Dong schüttelte den Kopf. „Es geht fast nie nur darum, was man betrachtet, sondern auch immer darum, wer es betrachtet. Wahrscheinlich ist das meist sogar wichtiger.“
    Mir wurde das langsam zu bunt, aber ich konnte den Quatsch, den Dong verzapfte, nicht einfach im Raum stehen lassen. „Unsinn. Ich betrachte dieses Glas Bier, und du betrachtest das Glas Bier, und wir sehen beide das Gleiche, nämlich ein Glas Bier.“
    Doch selbst dieses offensichtliche Beispiel konnte den Chinesen nicht überzeugen. „Nicht ganz“, sagte er und stellte den Abakus beiseite, ohne zu Ende gerechnet zu haben. „Ein Beispiel: Meine Alte nervt zu Hause üblicherweise sehr. Immer will sie, dass ich ihr das eine oder das andere kaufe oder klaue, immer gefällt ihr diese oder jene meiner Eigenschaften nicht, immer mag sie diesen oder jenen von meinen Freunden nicht und so weiter.

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