Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
sollte –, schlug O’Brian die bandagierten Hände zusammen.
„Jederzeit, mein Bester. London Rules?“, fragte O’Brian und hielt mir die Seile auseinander.
„Gibt es andere?“, fragte ich, während ich in den Ring kletterte und meine Bandagen festzog. Natürlich gab es keine anderen Regeln fürs Boxen ohne Handschuhe. Dennoch war O’Brians Frage nicht unberechtigt, denn obwohl die London Prize Ring Rules eigentlich nur verlangten, dass die Boxer den Gegner nach seinem Niedergang nicht weiter schlugen und auch nicht unter die Gürtellinie treffen durften, praktizierten die Gentlemen der Sektion Cricket gelegentlich auch Formen des Nahkampfes, bei denen ganz auf Regeln verzichtet wurde. Einen Iren vom Schlag O ’ Brians störte das natürlich wenig, und in den letzten Jahren hatte ich O’Brians Ellbogen häufiger in meinem Solarplexus gefühlt als die Hand meiner Frau zwischen meinen Beinen.
„Sie schwitzen und scheinen mir schon etwas erschöpft zu sein“, bemerkte ich zu O’Brian, während wir unsere bandagierten Fäuste zum formellen Gruß berührten. „Wollen wir es etwas entspannter angehen lassen?“
O’Brians Führhand flog vor und traf meinen Kiefer, noch ehe ich meine Deckung erhoben hatte. „Völlig unnötig“, feixte O’Brian. „Ich bin noch fit. Der kleine Mann da hat nicht mehr geleistet, als meinen Appetit zu wecken.“
„Nun gut“, nickte ich. „Dann also leichtes Sparring: Wer zuerst stirbt, hat verloren.“
O’Brian lachte. Das war die Art von Humor, die Iren und Schotten am besten verstanden.
Wir lieferten uns einen harten, aber kontrollierten Schlagabtausch, bei dem wir sehr viel zum Körper arbeiteten. Die Kopfdeckung blieb bei uns beiden immer oben, wodurch der Rumpf verhältnismäßig offen war, aber schließlich wollten wir uns gegenseitig zeigen, wie viel wir einstecken konnten, ohne dass einer von uns sich in einer Situation wiederfand, wo er eigentlich den gegnerischen General hätte abschießen müssen. Während O’Brian vor allem mit der Führhand arbeitete, erzielte ich meine Wirkungstreffer mit der Rechten, so dass ich meine Linke immer zum Blocken oben halten konnte.
„Wie ist das Befinden der werten Gemahlin?“, fragte mich O’Brian kurz nach einem besonders intensiven Schlagabtausch.
Meine Linke zuckte vor, traf ihn auf der kurzen Rippe und presste die Luft aus seinen Lungen. Seine Führhand ging zur Deckung gegen meine Rechte nach oben – so automatisch, wie sich der Hebel am Triebrad einer Dampflokomotive nach jeder Umdrehung nach oben bewegt –, aber statt mit der Rechten traf ich ihn mit der Führhand, die er nicht blocken konnte, im seitlichen Haken direkt auf das Kinn.
„Recht gut soll es wohl sein, danke der Nachfrage“, antwortete ich, während ich etwas besorgt beobachtete, wie O’Brian in die Knie ging.
„Ein guter Treffer“, registrierte er, aber ich musste mir eingestehen, dass ich deutlich fester zugeschlagen hatte, als es in einem freundschaftlichen Sparringskampf angezeigt gewesen wäre.
Aber zu einer Entschuldigung konnte ich mich nicht durchringen. „Lassen wir es gut sein“, meinte ich stattdessen. „Danke für den Kampf.“
„Gern geschehen“, lachte O’Brian, während er den Kiefer erst nach links, dann nach rechts schob. Er schien mir den Treffer nicht im Geringsten übelzunehmen.
Ich verabschiedete mich und ging nach hinten in die Umkleide, wo ich die Bandagen ablegte und die Badehose anzog. Dann schlurfte ich mit nackten Füßen die kurze, breite Spindeltreppe in den Keller nach unten zum Schwimmbad. Ich fand das achteckige, gut dreißig Fuß durchmessende Schwimmbecken mit den blauen Fliesen genau so vor, wie ich es in Erinnerung hatte. An jeder der acht Seiten des Beckens standen zwei Säulen, die das Deckengewölbe trugen und aus dem gleichen roten Marmor aus Verona gefertigt waren wie die Wände des Raums. Der Boden war mit dunkelbraunen und weinroten Mosaiksteinen belegt, die das Oktogon des Schwimmbeckens konzentrisch nach außen fortführten. Ich ging die vier Treppenstufen hinab, die in unbequem hohen Abständen ins Wasser führten – zwei Stufen über der Wasseroberfläche und zwei darunter, so dass man auch mit dem Oberkörper über dem Wasser am Rand sitzen konnte.
Wie immer war das Schwimmbecken ebenso leer wie der Lesesaal neben der Bibliothek, und wie immer konnte ich zwar Verständnis dafür aufbringen, dass die Offiziere Ihrer Majestät der Literatur wenig Interesse entgegenbrachten, aber ich
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