Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
verlaufen, wenn man nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt“, verteidigte er sich und zwirbelte seinen Schnurrbart. Wenn er weiter so höflich blieb, musste ich mir wenig Sorgen um meine Gesundheit machen. Ich fragte mich, weshalb er keine Waffe mitgebracht hatte.
„Ich kann meine Fragen aber gerne konkretisieren“, lenkte er ein. „Diese hier ist leicht: Wieso haben Sie Sir Malcolm ermordet?“
„Weil er mich, wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, in einer misslichen Lage entdeckt hat.“
Er brummte zufrieden. „Was hat Sie in diese Lage gebracht?“
„Ich glaube nicht, dass es mir freisteht, solche Details zu erörtern.“ Ich spielte auf Zeit, denn meine Finger hatten etwas Neues gefunden, was sich vielversprechender anließ als der Splitter zuvor. Inderdaad , ein alter, verbogener Nagel – der kleinste Baustein jeder Ingenieurskunst, ein Relikt aus der Zeit, als sie sich aus dem schlammigen Matsch der ersten Bauhütten erhob. Freimaurer wie Sedgwick (und vielleicht auch White) glaubten vielleicht, Stein sei das Maß aller Dinge. Ich aber sage, der Nagel regiert die Welt – also ans Werk!
„Ich würde sagen, Sie haben alle Freiheit, die man sich wünschen kann“, sagte White und hielt einen kleinen, funkelnden Gegenstand empor, so dass ich ihn sehen konnte, und ich musste eingestehen, dass er nicht ganz so schwer von Begriff war, wie ich erhofft hatte, denn hola , es war der Kristallknopf aus meinem Ohr – mein Draht zu den Heeren . Das war nicht ganz richtig, verbesserte ich mich, der eigentliche Draht war wohl noch irgendwo in meinem Kopf, aber ohne dieses Stück wäre er so nutzlos wie ein Schreibtelegraph ohne die Morsetaste. Ich fragte mich, was passieren würde, sollten die Heeren nun versuchen, mich zu kontaktieren.
„Nun, ich würde sagen, Sie wissen bereits, worum es mir geht“, entgegnete ich. „Die Antwort lag bei der Ananas in der Kiste.“ Ich hatte den Nagel inzwischen in eine ansprechende Form gebracht und führte ihn nun so lautlos als möglich in eines der Schlösser ein. Dank des Steinchens in meiner Brust war ich mit beiden Händen gleichermaßen geschickt, so dass es keinen Unterschied machte, welches Schloss ich wählte; ich konnte mir das willigere der beiden aussuchen.
White grinste breit. Natürlich hatte er das Artefakt bereits lange gefunden, ehe ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, und hatte anscheinend eine recht gute Vorstellung von den Möglichkeiten, die sich Eingeweihten im Umgang mit Kristallen boten. Ich hätte mich schon wirklich sehr täuschen müssen, wenn er nicht zur gleichen Loge wie Sedgwick gehörte. Vielleicht war er sogar ihr Vorsitzender oder wie immer man das hierzulande nannte.
Seine nächste Frage freilich überraschte mich.
„Was hat Ihnen Sedgwick über das Artefakt berichtet?“, wollte er wissen.
„Ich dachte, wir hätten bereits etabliert, dass ich ihn niedergeschossen habe“, warf ich ein. „Für eine Aussprache blieb kaum Zeit.“
„Ich meine, im Vorfeld.“
„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.“
Zufrieden registrierte ich, wie er sich auf die Lippen biss. Er hatte mir unabsichtlich mehr enthüllt, als er gewollt hatte. Wel, wel , es hatte also eine Absprache gegeben. Sedgwick hatte das Artefakt nicht nur aus eigenem Forscherdrang verwahrt. Wenn er es aber nicht für mich verwahrt hatte, für wen dann?
Mein Nagel verhielt sich leider recht eigensinnig, oder vielleicht war es auch seine eiserne Scheide, die den erhofften Höhepunkt, das befreiende Aufschnappen, verhinderte, also zog ich ihn aus seiner Klemme und versenkte ihn in die andere erwartungsvolle Öffnung. Ich kam nicht umhin, den Nagel zu beneiden.
Auch mein Gegenüber war wieder in seinem Element. Er hatte sich erhoben und spazierte aufgeregt in meiner beengten Behausung auf und ab.
„Selbst, wenn ich Ihnen glaubte, mein Bester, so weigere ich mich doch anzunehmen, dass Sie völlig ohne Grund in dieser Platane saßen. Wenn Sie nicht wegen des Artefakts gekommen waren – was hatten Sie dann eigentlich gesucht?“
„Dasselbe wie Sie“, sagte ich vergnügt, denn ich spürte, dass der Nagel seinem Ziel ganz nahe war. „Antworten.“
„Auf was für Fragen, Frans?“, wollte er wissen und breitete die Hände aus. „Bitte, fragen Sie. Eventuell kann ich Ihnen helfen.“
Ich sah keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen, denn augenscheinlich wollten wir ohnehin das Gleiche, wenn auch aus verschiedenen Gründen. „Nun, wie weit Sie mit
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