Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
rannte durch Salon und Treppenhaus, entging nur um Haaresbreite dem Mann im schwarzen Anzug, der eine Reihe französischer Flüche abließ, und flüchtete auf die Straße.
Dort atmete ich tief durch.
Vor mir lag die Südseite des Palasts mit dem geschlossenen Haupteingang. Einen Augenblick fühlte ich mich leer wie die weiße, gläserne Mauer, in der sich der dunkle Himmel und die schnell eilenden Wolken spiegelten. Es wurde kalt, und ich zog den Schal enger um mich, während sich um mich herum die Schaulustigen und Diener auf dem Kensington Gore drängten.
Wer waren die Leute, die hier in unmittelbarer Nähe des Palasts Quartier bezogen hatten? Fühlten sie seinen Ruf wie ich? Wie Frans? Was hatten sie damit zu tun? Wie viel wussten sie von mir ... von Ananda?
Für einen Augenblick wurde mir übel, und ich fühlte mich wie die Figur eines Spiels, das ich nicht begriff. Ich erwog, dem Captain einen Besuch abzustatten, verwarf die Idee aber für den Moment. Versuchen Sie nicht, dem Batsman ein Bein zu stellen. Zuerst brauchte ich Antworten.
Ich kannte nur eine Person, die mir vielleicht diese Antworten liefern konnte.
Ich hoffte wirklich, er würde es tun.
Ich hastete die Sloane Street hinab. Noch ehe ich Baileys Haus erreichte, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl; vielleicht waren es die Reste starker, aufgewühlter Empfindungen in den Menschen, die mir entgegenkamen; vielleicht die Kutsche, die vor dem Haus geparkt stand, und die geschlossenen Fensterläden. Er war zurück!
Schnell nahm ich die Stufen zur Tür und klopfte.
Mrs. Lincoln öffnete und sah mich missbilligend an. Ihre Missbilligung reichte weit tiefer als die Verärgerung darüber, mich in ihrer Kleidung zu sehen, die ich nicht einmal vollständig wieder zurückgebracht hatte.
„Da sind Sie ja. Wo haben Sie nur gesteckt? Er soll sich doch nicht immer solche Sorgen machen müssen!“
Ich drängte mich an ihr vorbei, folgte einem langgezogenen Stöhnen bis in den Salon und fand Bailey, wie er sich mit Hilfe eines Arztes gerade vom Sofa erhob. Er trug einen weißen Hausmantel und sah furchtbar aus; jemand hatte ihn im wahrsten Sinne grün und blau geschlagen. Sein Gesicht war verquollen, eine Braue aufgeplatzt und seine Schulter in eine Bandage gehüllt. Sein Bart machte einen angesengten Eindruck, und auch Haare schien er verloren zu haben. Seine gute Laune schien er aber behalten zu haben, und ich spürte, er trug wieder sein Kristallauge.
„Miss Niobe!“, strahlte er und breitete die Arme aus, wurde aber von einem Hustenanfall geschüttelt, und der Arzt musste ihn stützen, damit er nicht stürzte.
„Mein Gott“, rief ich. „Was ist geschehen?“
Er winkte ab, als sei es keine große Sache. „Das wollte ich Sie fragen.“ Er bedeutete dem Doktor, es gehe schon und er solle uns einen Augenblick allein lassen. Gegen meine Proteste nahm er mich bei der Hand und führte mich zu einem Ohrensessel. Dann läutete er nach Mrs. Lincoln und ließ Tee bringen. Ich wollte nach seinen Blessuren sehen, aber er ließ mich nicht. Ächzend ließ er sich wieder auf das Sofa sinken.
„Wird schon wieder. Nur ein Streifschuss! Immerhin trage ich meine Narben nicht umsonst; für meine alten Tage habe ich mich nicht schlecht geschlagen.“
Wenn Bailey anfing, sein Alter zu betonen, tat er das meist, um über seine seltenen Niederlagen hinwegzutäuschen. Ich war sicher, ein gewöhnlicher Straßenräuber hätte ihn nie so zurichten können.
„Sie haben Frans gefunden“, schloss ich.
„Wir hatten reichlich Muße, einander kennenzulernen“, gab er zu.
„Was ist aus ihm geworden? Ist er entkommen?“
„Bitte streuen Sie nicht weiter Salz in meine Wunden. Immerhin hat er mich mit ein paar wertvollen Informationen versorgt, die ich so bald wie möglich an die Loge weiterleiten muss.“
„Was hat er Ihnen berichtet?“
Er strich sich über den Bart. „Miss Niobe, ich weiß, wie unbefriedigend das für Sie sein muss, aber ich möchte Sie von dem Fall abziehen. Pah, ich werde Sie von diesem Fall abziehen. Machen Sie die nächsten Tage einen großen Bogen um den Tempel und tun Sie einfach so, als hätte ich Sie nie in diese Sache verwickelt.“
„Roderick ...“
Er hob die Hand. „Kommen Sie mir nicht mit ‚Roderick ‘ . Die Sache ist zu gefährlich für Sie. Denken Sie an Sir Malcolm! Er glaubte auch, sich über die Regeln hinwegsetzen zu können.“
„Die Regeln?“, erkundigte ich mich. „Soll das heißen, die Loge hat mit seinem Tod
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