Der Kristallstern
ihr in Schattenrisse. Sie wollte darauf zulaufen. Sie wollte vor Freude laut schreien.
Vor ihr stiegen die anderen Kinder Treppenstufen empor und traten hinaus in das Licht. Es überspülte sie, badete sie in strahlendem Glanz. Aber sie gingen achtlos weiter. Wenn Jaina die Sonne sah, würde sie ihr das Gesicht entgegenrecken und sie auf sich einströmen lassen. Sie würde in die Helligkeit hinausrennen…
»Halt!«
Alle Kinder blieben auf das Kommando des Proktors hin stehen. Jaina war nur noch ein paar Schritte von der blitzenden Helligkeit am Fuß der Treppe entfernt. Sie hielt den Atem an. Sie hatte Angst, daß man sie in die Dunkelheit zurückbringen würde.
Der Proktor gestikulierte heftig in Tigris’ Richtung. Jaina sehnte sich nach dem Licht, kam aber bestürzt zu der Überzeugung, daß Tigris sie aus der Reihe ziehen und zurück in die dämmrige Studierkammer oder die dunkle Schlafzelle schicken würde.
Tigris hob ihr Kinn an und zwang sie, zu ihm hochzublicken.
»Du darfst Spazierengehen auf dem Spielhof«, sagte er. »Du darfst leise sprechen auf dem Spielhof. Du darfst nicht brüllen. Du darfst nicht laufen. Du darfst nicht im Sand graben. Du darfst keine Blätter ausrupfen. Hast du mich verstanden?«
Sie nickte. Er kniff sie mit seinen schmutzigen Fingern ins Kinn. Er ließ sie los.
»Und du kannst dich nicht dem Zaun nähern!« sagte er.
»Warum gibt es so viele Vorschriften?« fragte Jaina.
»Das ist keine Vorschrift«, sagte Tigris. »Wenn du dich dem Zaun näherst, wird dich der Drache fressen!«
Ein Drache! Jaina war fasziniert.
Die Proktoren gestatteten den Kindern, sich wieder in Bewegung zu setzen, und Jaina kletterte aus der Grube ins Sonnenlicht hinaus.
Es war hell und heiß, viel intensiver, als sie es gewohnt war. Sie blinzelte, um die bunten Punkte vor ihren Augen zu vertreiben, und hielt Ausschau nach Jacen. Sie war begierig darauf, mit ihm zusammenzukommen, herauszufinden, wo sie sich befanden und wie sie vielleicht nach Hause fliehen konnten.
Der Wyrwolf des Haushofmeisters lief quer über den Sand auf sie zu. Sie kniete sich hin und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Oh, es geht dir gut! Haben sie dich hier draußen ganz alleine gelassen? Du hast trotzdem Glück. Du brauchst nicht diese dummen Lektionen zu lernen!«
Das dichte Oberfell des Wyrwolfs fühlte sich rauh in ihrem Gesicht an. Ein schwerer Kragen aus Metall und Leder war am Hals des Wyrwolfs befestigt worden. Jaina versuchte, den Wyrwolf davon zu befreien.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kriege ihn nicht runter.« Ihre Finger waren nicht kräftig genug, um den Kragen zu lösen.
Der Wyrwolf jaulte und preßte sich an sie.
»Gehen wir kundschaften.« Jaina stellte sich auf die Füße. »Sehen wir mal, ob es einen Weg nach draußen gibt.«
Sie sah sich um.
Der Spielplatz war die Sohle eines Canyons. Der Canyon war nicht sehr tief, aber seine Flanken waren steil und glatt. Sie würden schwer zu erklettern sein.
Es gab jedoch einen Weg zum Gipfel. Hoch oben auf der Klippe machten die Proktoren in ihren hellblauen Uniformen schnelle Dreh-, Schlag- und Stichbewegungen – sie übten mit Lichtschwertern.
Jaina starrte sie ungläubig an. Wieso besaßen diese bösen Leute Lichtschwerter? Lichtschwerter waren für gute Leute, für Jedi-Ritter. Sie wollte ein Jedi-Ritter werden. Sie wollte alt genug sein, um ihr eigenes Lichtschwert bauen zu können und um zu lernen, wie man es benutzte. Außerdem wollte sie ein Ingenieur werden, ein Rennschiffpilot und ein Schlagzeuger.
Sie wandte den Proktoren hoch oben auf ihrer Klippe den Rücken zu und suchte weiter nach einem Fluchtweg. Der Wyrwolf des Haushofmeisters trottete hinter ihr her.
Ein Zaun sperrte das gegenüberliegende Ende des Canyons ab. Sie ging auf den Zaun zu. Man könnte leichter an ihm hochklettern als an den Felsklippen.
Sie war nicht auf Munto Codru. Sie war auf keiner Welt, die sie jemals besucht hatte. Es handelte sich um eine sehr kleine Welt. Hinter dem Zaun begann schon bald der Horizont. Und der Horizont neigte sich. Die kleine weiße Sonne am Himmel bewegte sich so schnell, daß sich auch die Schatten bewegten.
Dies ist keine natürliche Welt, dachte Jaina. Sie ist zu klein. Es ist eine künstliche Welt, eine, die man gebaut hat. Anderenfalls hätte sie nicht diese hohe Schwerkraft. Und sie dreht sich so schnell, daß ihr Tag nur ein paar Stunden lang ist.
Ein paar stachlige Pflanzen kämpften in dem trockenen Sand ums Überleben. Jaina
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