Der Kugelfaenger
ihrer Handtasche eine Modezeitschrift hervor, schlägt eine Seite auf und starrt stirnrunzelnd darauf. „Na ja, wenn ich ehrlich bin, sehen Sie ihr gar nicht mal
so
ähnlich.“ Sie hält ihr die Zeitschrift hin. Evelyn erblickt sich selbst auf Seite Vier. „Sehen Sie, die Haare passen gar nicht“, sagt sie und meint damit Evelyns abstehende Mähne, die sie sich heute noch gar nicht gekämmt hat. „Und das Gesicht passt auch nicht.“
Der Fahrstuhl hält an, die Türen gehen auf.
„Tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe“, sagt die Frau, schlägt ihre Zeitschrift zu und verlässt den Aufzug.
Evelyn drückt seufzend auf die Knöpfe und fährt wieder nach oben. Sie ist sich nicht so sicher, warum die Frau nicht kapiert hat, wen sie da vor sich hat. Entweder weil sie es einfach nicht wahrhaben wollte oder weil Evelyn so geschickt vorgegangen ist. Oder weil man das Bild in der Zeitschrift so toll mit einem Bildbearbeitungsprogramm bearbeitet hat.
Sie steigt auf ihrem Stockwerk aus. Sie lässt das gelbe Kleid zur Sicherheit in einer Ecke des Fahrstuhls liegen. Dann geht sie zu ihrer Suite zurück. Tom öffnet ihr die Tür.
Sie schlüpft an ihm vorbei. „War ein Spaziergang“, sagt sie und lädt die Kleidung auf dem Sofa ab und setzt sich auf das andere. „Ein frisches, blütenweißes Hemd, ein Sakko und eine Hose. Bedienen Sie sich.“
„Ich sehe die Schlagzeile morgen in allen Zeitungen schon vor mir: ‚Kriminelles Model von ebenso kriminellem Bodyguard zu Diebstahl angestiftet’.“ Er lacht. Evelyn lacht nicht.
Sie starren beide auf die in Folie eingepackte Kleidung, die über der gegenüberliegenden Sofalehne liegt.
„Geld haben wir aber immer noch keins“, stellt Evelyn fest.
„Nein“, bestätigt Tom düster. „Aber was machen wir, wenn die merken, dass etwas von der Kleidung fehlt und unser Zimmer durchsuchen wollen?“
„Dann werfen wir sie schnellstens aus dem Fenster und bitten sie recht freundlich auf einen Drink herein.“
„Die Fenster kann man nicht öffnen.“
Sie warten fünf Minuten äußerst angespannt, aber nichts geschieht. Nach weiteren zehn Minuten sind sie sich sicher, dass keiner zu ihnen kommen und sie aus dem Hotel werfen wird. Also ziehen sie die Sachen an und machen sich fertig.
Tom sind das Hemd und die Hose zu weit. Evelyn ist das schwarze Kleid zu kurz. Aber das ist alles nicht schlimm. Sie haben nur Glück, dass Frank Greyson nicht anwesend ist.
***
Es geht so zu, dass Evelyn Mühe hat, sich zwischen den ganzen Leuten zu bewegen. Und es kommen immer mehr. Eine Schar von Stylisten und anderen Leuten hat sich um jedes Model versammelt. Evelyn steht im Gang zwischen den anderen und hat nur ihre eigene Unterwäsche an. Man zupft und zerrt an ihr herum und sie verschwindet immer wieder zwischen den zahllosen Leuten.
Für Tom ist das der reinste Horror. Er kann nicht wirklich ein Auge auf Evelyn haben und außerdem wird er ständig von irgendwelchen Leuten angerempelt, zur Seite geschoben und schief angesehen. Eigentlich steht er ja nur im Weg herum. Also gibt er den Versuch auf, möglichst nahe bei seiner Klientin zu sein, sondern zieht sich aus der Menge zurück und sieht diesem verrückten Treiben aus einiger Entfernung zu.
***
Cliff, einer der zahlreichen Stylisten und Mädchen für alles, was das Aussehen der Models betrifft, ist gerade damit beschäftigt, Evelyns widerspenstige Haare etwas zu bändigen und für die Show herzurichten, als sich ein spindeldürres Mädchen auf den letzten freien Schminkstuhl neben Evelyn fallen lässt.
„Hi“, begrüßt sie Evelyn und wirft ihr rotes Haar hochmütig zurück.
Evelyn wendet sich ihr zu und ruft dadurch beinahe einen Anfall der Verzweiflung bei Cliff hervor.
„Oh, hallo“, sagt Evelyn erfreut, aber auch ein wenig eingeschüchtert. Denn neben ihr sitzt – man mag es kaum glauben – Mel. Ja,
Mel
. (Zur Erklärung für alle, die Mel nicht kennen: Mel ist vierundzwanzig und ebenfalls Model. Sie ist in den USA
das
Model schlechthin. Ihr Gesicht ziert nicht nur Werbeplakate am Times Square und in der Pariser Metro, sondern auch Hochglanzmagazine, Antischuppenshampooflaschen, Ungeziefervernichtungsmittel …
Sie war trotz ihrer jungen Jahre schon mit einigen erheblich älteren Fußballspielern zusammen und soll in dieser Beziehung nun angeblich ins Filmgeschäft gewechselt haben.
Sie ist ein echter Profi in ihrem Fach und scheffelt mindestens vierzig Millionen Dollar im Jahr.
Wer wäre da nicht auch
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