Der Kugelfaenger

ja?“
    „Ja.“
    „Probleme?“ David klingt plötzlich wieder so wie immer.
    Er macht sich schon wieder über mich lustig. Und ich bin auf seine Sanftmütigkeit reingefallen.
    Tom begnügt sich mit einem knappen „Ich bin bald zurück“ und schaltet das Handy ab.
    ***
    Nach einer guten Stunde dort unten auf dem kühlen Fußboden im Wohnzimmer, zwischen Sofa und Schrank, schafft es Evelyn erst, aufzustehen und in den ersten Stock zu kriechen. Sie geht ins Badezimmer, schließt die Tür hinter sich ab und zieht ihre alten, stinkenden Sachen aus und wirft sie in den überquellenden Wäschesammelkorb. Dann hebt sie vorsichtig ihren Blick zum Spiegel. Zuerst betrachtet sie ihren mageren Körper, von dem die Rippen deutlich an ihrem Dekolleté zu sehen sind. Der Anblick des kleinen Mädchens drängt sich daneben. Schließlich bleibt ihr Blick an ihrem eigenen Gesicht hängen. Sie denkt an die Sprühflasche in der Hand des Mannes. Wie durch einen Nebelschleier spürt sie, wie ihr Magen zu rebellieren beginnt und sie übergibt sich zum zweiten Mal an diesem beschissenen Abend ins Waschbecken. Dann trocknet sie ihren Mund ab, ohne noch einmal in den Spiegel zu sehen. Sie spült zwei der Tabletten gegen Reiseübelkeit aus dem Spiegelschrank, deren Haltbarkeitsdatum schon längst überschritten ist, mit einem Becher Wasser hinunter. Dann sucht sie nach den starken Schlaftabletten, von denen eine einzige sogar genügen würde, um ein Pferd augenblicklich außer Gefecht zu setzen und welche sie ihrer Tante in bester Arztmanier verboten hat, einzunehmen. Ihre Finger zittern und werfen ein paar Cremedöschen um, bevor sie die Tabletten gefunden haben. Sie kippt eine mit einem weiteren halben Becher Wasser hinunter. Sie weiß selbst, dass sie nicht so viel von dem Zeug nehmen sollte, aber das geht ihr momentan sonst wo vorbei.
    Dann tappt sie in ihr Zimmer, legt sich nackt ins Bett, da sie keine Kraft mehr hat, sich etwas anzuziehen und schlägt die Decke bis zum Kinn hoch. Es ist warm im Zimmer, aber sie fröstelt. Sie wartet, aber der Schlaf will nicht kommen. Sie beugt sich aus dem Bett hinaus, zieht ihren Laptop unter dem Bett hervor und fährt ihn hoch. Bei Youtube findet sie augenblicklich, was sie sucht. Das Video ihres verhängnisvollen Auftrittes von vor fünfzehn Tagen wurde schon fast zwei Millionen Mal angeklickt. Respekt. Evelyn sieht sich selbst, wie sie mit den anderen drei Juroren einer TV-Castingshow, in der junge Nachwuchsmodels gesucht werden, an einem Tisch Platz nimmt. Sie hat sich anfänglich dagegen gesträubt, aber nachdem man ihr für einen einzigen Auftritt, bei dem sie mit der regulären Jury mitentscheiden sollte, wer weiterkommt und wer rausfliegt, so unverschämt viel Geld geboten hat, dass es an Dummheit gegrenzt hätte, es nicht anzunehmen, hat sie zugesagt. Da hat sie nun gesessen und den Mädchen zugesehen, wie sie in knappen Fummeln über einen Laufsteg gelaufen sind und sich und ihren Körper präsentiert haben. Es waren nur noch sechs Kandidatinnen übrig, die alle verbissen um den ersten Platz gekämpft haben. Schließlich ist es zu den Bewertungen der Jury gekommen, bei der die Kandidatinnen wie die Spatzen nebeneinander aufgereiht vor ihnen gestanden haben. Zur Jury hat Rudolf Fallenberg gehört, ein zweiundvierzigjähriger, eher zweitklassiger deutscher Modedesigner, mit nur geringer internationaler Erfahrung. In Großbritannien erfreut sich seine recht schrille Mode allerdings wachsender Beliebtheit. Seine beiden Kolleginnen haben bis zu diesem Zeitpunkt Sara Lewis und Viola Barnes umfasst, zwei britische beziehungsweise US-amerikanische Models. Sara Lewis ist in New Orleans, Louisiana geboren und ist mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon sehr erfolgreich, wo hingegen Viola Barnes sich mit einunddreißig schon wieder auf dem absteigenden Ast der Modebranche befindet. Die Musikindustrie hat bis heute einige ihrer kurzen Ausflüge weitgehend unbeschadet überstanden, ist aber eben auch ziemlich unbeeindruckt geblieben. Momentan versucht sie sich in der Filmbranche hinter der Kamera und hat schon einen recht seichten, aber durchaus beachtenswerten Liebesfilm gedreht, bei dem Julia Roberts sicher auch ihre Freude gehabt hätte.
    Evelyn ist gerade dabei gewesen, sich sorgfältig ihre Kommentare zu überlegen, die sie abgeben wollte, als Fallenberg begonnen hat, harte Kritik an den jungen Damen zu üben. Dabei hat er sich vor allem auf eine besonders eingeschossen gehabt.
    „Also, Dani“,