Der Kugelfaenger
Stimme erstirbt ihm.
Jean setzt sich in den Sessel, in dem vor kurzem noch sein Sohn gesessen hat und schlägt die Beine übereinander. „Es wäre nett von euch, wenn ihr mich euch das alles erzählen lassen würdet.“ Er blickt auf die Fotos und lächelt versunken. Als er sich zwanzig Jahre zurückerinnert, könnte man ihn durchaus für einen Märchen erzählenden Großvater halten.
***
Es war ein ungewöhnlich schöner Spätherbsttag im Südwesten Englands gewesen. Jetzt wurde es draußen schon dunkel, aber das störte Anatolij Schirkow nicht weiter. Er lag in der Badewanne des kleinen Ferienhäuschens, das er sich zusammen mit seiner Freundin vor drei Tagen gemietet hatte und genoss ein schönes Schaumbad, während die
Rolling Stones
in seinen Ohren lärmten. Das Häuschen befand sich in einem kleinen Ort an der Nordküste der Grafschaft Cornwall, war aber so weit von den anderen Häusern des Örtchens entfernt, dass man sich gegenseitig nicht in die Fenster gucken konnte, was ihm und seiner Geliebten sehr recht war.
Er räkelte sich in der Badewanne. Claire war noch kurz am Strand spazieren gegangen und würde bald wiederkommen.
Sie hatten sich vor vier Monaten auf einer Modenschau kennen gelernt und sich sofort ineinander verliebt. Anatolij war frustriert, weil es ihm nicht gelang, als Männermodel im Modebusiness Fuß zu fassen und Claire hatte die Nase voll von ihrem herrischen Ehemann. Beste Vorraussetzungen für eine Affäre also. Sie war achtunddreißig, er neunundzwanzig. Der Altersunterschied störte sie beide nicht. Sie war sogar dazu bereit, ihren Sohn zurückzulassen. Sie hatte sich elf Jahre lang fast unablässig um ihn gekümmert. Jetzt war sie dran.
Hätten die
Rolling Stones
nicht so laut
Satisfaction
in seine Gehörgänge gebrüllt, dass sein Trommelfell vibrierte und die Gehörknöchelchen wackelten und hätte er auch seine Augen nicht zu gehabt, hätte Anatolij den Mann mit Sicherheit schon bemerkt, noch bevor dieser die Möglichkeit gehabt hätte, sich zu ihm auf den Badewannenrand zu setzen. So lüpfte er erst seine Lider und nahm die Kopfhörer von seinen Ohren, als er etwas an seinem Hals spürte. Das Ding an seinem Adamsapfel war die Spitze eines langen Küchenmessers, das erkannte er sofort. Und auf dem Wannenrand saß ein Mann, der ihm das Messer an die Gurgel hielt, das sah er auf den zweiten Blick. Aber es war nicht irgendein Mann. Es war Claires Mann.
Anatolij wich zurück und rutschte in der Wanne nach oben. Das Wasser wurde langsam kalt.
„Schschsch“, machte Jean Dupont beruhigend, schüttelte langsam den Kopf und formte dabei mit seinem Mund ein O. „Ganz ruhig.“
Aber Anatolij Schirkow war alles andere als ruhig. Die Klinge an seinem Hals, die Dupont wie einen Degen gegen seine Haut hielt, verhinderte das.
„Was wollen Sie?“, brachte er mühevoll hervor. Er hatte panische Angst, dass sich die Messerspitze in seinen Hals bohren könnte, wenn er sprach. Oder atmete.
Dupont musterte ihn eingehend. Dann sprach er: „Das können Sie sich doch denken, Junge.“
Anatolij fiel nur Claire ein. „Was wollen Sie
von mir
?“, präzisierte er seine Frage, die Angst vor der Antwort stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Dupont beugte sich ein Stückchen weiter zu ihm hinab und flüsterte vertrauensvoll: „Ich will Sie töten, Junge.“
Anatolij wagte jetzt nicht mal mehr zu schlucken. Der Klos, der sich in seinem Hals befand, wurde immer größer. Er meinte spüren zu können, wie er mehr und mehr anwuchs und ihm die Luft zum Atmen nahm. Dabei war es keineswegs ein Klos, der sich ausdehnte. Es war ein extra scharfes, japanisches Küchenmesser mit zwanzig Zentimeter langer Klinge, das sich durch die Haut, das Fleisch und die Muskeln des Halses Anatolijs bohrte, sauber die Luftröhre und die Speiseröhre durchtrennte. Das Blut spritzte und das Leben in den Augen und im restlichen Körper erlosch.
Jean zog das Messer aus der Wunde und betrachtete es. Es war ein großes Haiku Kochmesser. Der Griff war aus Honoki-Holz, die Klinge aus hochwertigen Stählen. Gesamtlänge: vierunddreißigeinhalb Zentimeter. Gewicht: einhundertachtundzwanzig Gramm. In der Artikelbeschreibung stand, es wäre ein Allrounder und für alle Aufgaben in der Küche geeignet. Tja. Auch außerhalb der Küche tat es einen hervorragenden Job. Er wusch das Messer im roter werdenden Badewasser ab und betrachtete sein Werk. Er war zufrieden. Er sah sich im Badezimmer um, auf die Leiche des Russen. Er
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