Der Kugelfaenger
widerspricht ihm lieber nicht. Aber schön langsam möchte er den Rückweg wissen. „Können Sie mir jetzt vielleicht sagen ...“, setzt Tom an, doch er wird von dem alten Mann unterbrochen.
„Und wohnen kann man hier auch toll“, sagt dieser.
„Ach tatsächlich? Wie ist es hier denn so?“
„Was meinen Sie damit?“ Der alte Herr beäugt ihn misstrauisch.
„Äh … ist es hier nicht
gefährlich
?“ Tom senkt die Stimme.
„Gefährlich?“, sagt der Alte verständnislos. „Ich gebe ja zu, dass ich nicht im
vornehmsten
Wohnviertel Londons lebe, aber das hier ist nicht Amerika, mein Herr. Und auch nicht New York.“ Er ist jetzt so richtig in Fahrt. „Wir haben unsere Stadt im Griff“, sagt er wütend.
„Entschuldigen Sie bitte“, beeilt sich Tom zu sagen. „Das habe ich so nicht gemeint.“
Der Mann sieht ihn noch einmal abschätzig an. Dann wechselt er das Thema. „Aber ich bin hier in meinem riesigen Haus so verdammt alleine.“ Nun ja,
riesig
ist vielleicht etwas übertrieben. Es sieht eher aus wie eine überdimensionale Streichholzschachtel.
„Wohnen Sie hier denn alleine?“ Tom kann sich diese Frage nicht verkneifen. Erst als er sie schon ausgesprochen hat, weiß er, dass sich dadurch sein Nachhausekommen nur noch mehr verzögert. Es ist schon kurz vor halb acht. Man sollte halt erst sein Hirn einschalten, bevor man den Mund aufmacht.
Ein Käfer läuft schnurstracks über den Zaunpfosten neben dem Gartentor.
„Meine Frau ist tot, mein Hund ist tot und mein Wellensittich ist letztes Jahr gestorben.“
„Hm.“
„Jetzt wohne ich noch mit meiner verrückten alten Schwester da drinnen.“ Er holt mit seiner Morgenzeitung aus und macht den Käfer auf dem Zaunpfosten mit einem kräftigen Schlag zu Matsch. „Elende Mistviecher“, knurrt er.
„Hm.“ Tom starrt gedankenverloren auf den dunklen, feuchten Fleck des ehemaligen Insekts.
„Warum sind Sie eigentlich hier?“ Es scheint, als wäre dem Alten Toms Anliegen schon wieder entfallen.
Tom sieht zu ihm hinunter. Der Mann reicht ihm gerade mal bis an die Schulter. „Ich? Ich wollte eigentlich nur den Weg wissen …“
„Warum sagen Sie das nicht gleich?“, fährt ihn der Mann an. Dann beginnt er, Tom den Weg zu beschreiben. Beim zurücklaufen kommt er an einer Bäckerei vorbei. Er geht hinein und kauft Brötchen. Vielleicht kann er Evelyn damit ja eine Freude machen. Oder zumindest ihrer Tante.
Als er wieder an der Garage ankommt, ist es fast acht Uhr. Er geht ins Bad und duscht sich. Dann zieht er ein frisches T-Shirt und eine Jeans an.
Er will rüber gehen und nachsehen, ob schon jemand wach ist. Er zieht sich seine Lederjacke über. Sein Magen knurrt. Vielleicht bekommt er auch ein Frühstück.
Tom pfeift eine ziemlich schiefe Melodie und öffnet beschwingt die Tür. Er hat beschlossen, sich so schnell nicht mehr die gute Laune verderben zu lassen. Von nichts und niemandem.
Sein Tatendrang findet allerdings gleich wieder ein jähes Ende, als sein Blick auf den Absatz vor seiner Tür fällt. Denn was steht da seelenruhig auf den schmutzigen Holzbrettern?
Tom kann es kaum glauben.
Ein Huhn!
Er weicht einen Schritt zurück. Dann kneift er die Augen kurz zusammen. Träumt er vielleicht noch? Das Huhn gibt einen kurzen gackernden Laut von sich. Leider sieht es nicht danach aus.
Toms Augen weiten sich. Er starrt das Huhn an. Das Huhn starrt zurück. Dann schlägt es mit den braunen Flügeln, schüttelt ihr Federkleid aus und beginnt, mit den Krallen am Boden zu scharren. Das genügt Tom. Schnell wie der Blitz ist er wieder zurück im Zimmer, knallt die Tür hinter sich zu und lehnt sich gegen sie. Sein Atem geht schnell und er schwitzt.
Oh Mann! Wie kann ich mich nur so von einem solch kleinen Vieh aus der Fassung bringen lassen?!
Die Wahrheit ist, dass Tom panische Angst vor Hühnern hat. Als er noch ein Kind war, hat es schon genügt, dass er Hühner im Fernsehen gesehen hat, um ihn zum Ausflippen zu bringen (Oh, was hatte sein kleiner Stiefbruder Rusty immer Spaß, den großen Stiefbruder Tom bis auf Blut zu ärgern.). Als Vierjähriger hat er einmal sogar aus seinem Märchenbuch den Hahn der Bremer Stadtmusikanten aus der Zeichnung herausgeschnitten und im Klo hinuntergespült. Doch dabei blieb es nicht. Bei dem Besuch einer Hühnerfarm mit seiner Klasse, hatte sich der elfjährige Thomas Hunt geweigert, unter seinem Sitz des Busses hervorzukommen. Mit fünfzehn beschoss er die Hühner in einem Tierpark mit
Weitere Kostenlose Bücher