Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
Tatorten erlebt hatte.
Sie betrat einen Raum zu ihrer Rechten und ging sogleich rückwärts wieder hinaus, vorsichtig darauf bedacht, sich von den Wänden fernzuhalten aus Angst, wenn sie etwas berührte, würden die Eindrücke sie überwältigen. Sie eilte zurück zur Treppe. Jedes Zimmer, in das sie unterwegs hineinschaute, war augenscheinlich leer – und doch voll böser Geister. Jeder Schritt, der sie auf der Treppe nach oben führte, verstärkte ihr Grauen noch, doch ein innerer Drang trieb sie vorwärts. Sie hatte keine Wahl, wie ein Hai musste sie entweder weiter vordringen oder sterben. Schwer atmend erreichte sie den nächsten Treppenabsatz, dann den nächsten. Wie bei einem unsichtbaren Spießrutenlauf wurde der Ansturm auf ihre Sinne mit jeder Stufe heftiger, was sie nur dazu zwang, immer schneller zu laufen.
Egal auf welcher Ebene, jedes leere Zimmer, in das Sorcha hineinschaute, sah aus wie die anderen, fühlte sich aber anders an. Während sie den Turm hinaufrannte, bemerkte sie plötzlich, dass sie sich in einem ihrer immer wiederkehrenden Albträume befand: Sie lief durch ein verlassenes Hotel voll leerer Zimmer, die nur von den Seelen der Toten bewohnt waren. Sie versuchte, noch weitere Erinnerungen an die Zeit vor ihrer Amnesie hervorzurufen, an den Tag, an dem sie von hier geflohen war, denn sie spürte, dass die Erinnerungen da waren, sich in den Tiefen ihres Geistes versteckt hielten, noch immer zu verängstigt, um hervorzukommen und sich ihr zu zeigen.
Vor einem der Zimmer in der sechsten Etage blieb sie abrupt stehen. Eine Sekunde lang wusste sie nicht warum. Dann sah sie das Medaillon, das so beiläufig wie ein » Bitte nicht stören«-Schild am Türknauf hing. Sie nahm es an sich und hielt es fest umklammert, als wollte sie damit die Geister abwehren, die sie umwirbelten. Dann atmete sie tief durch, trat in das Zimmer und drückte die Hand fest gegen die Mauer. Sobald sie die Steine berührte, schrie sie auf wie ein Tier, das fürchterliche Schmerzen litt. Die Erfahrung war so intensiv, dass alle Versuche, sich von den Bildern, Geräuschen und Gerüchen zu distanzieren, zwecklos waren. Sie ließ Sorcha an allem zweifeln, was Fox und seine Tante ihr erzählt hatten. Das hier war kein neutrales Echo oder eine konservierte Erinnerung, sondern eine Seele in höchsten Qualen – eine Seele, die sie kannte. Wie in Trance griff Sorcha in ihre Tasche und zog das Foto von ihrer Mutter heraus, das Eve ihr gegeben hatte. Doch es war gar nicht nötig, ihr Bild mit dem Todesecho zu vergleichen, denn Aurora sah genauso aus wie sie selbst. Und was noch schlimmer war: Sorcha sah nicht nur ihre Mutter in diesem Todesecho. Sie sah auch ihren Vater. Wie konnte Delaney einer Frau, von der er behauptete sie zu lieben, so etwas antun? Dann erinnerte sie sich daran, was er Eve angetan hatte, und kannte die Antwort.
Mit dem Todesecho erschienen nun weitere Erinnerungsfetzen, bruchstückhaft und unzusammenhängend wie die Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Sie spürte, dass in diesem Zimmer noch etwas anderes geschehen war, etwas ebenso Entsetzliches wie der Mord an ihrer Mutter. Sorcha zog ihre Hand von der Wand weg, lief zurück zur Treppe und stieg weiter hinauf.
50
Wenige Augenblicke zuvor
Wo zum Teufel war sie? Warum hatte Sorcha nicht auf ihn gewartet? Als Fox durch die Tür in die innere Säule des Turms trat, erkannte er im flackernden Licht eine Wendeltreppe, die sich den Turm hinaufwand. Das hier war der einzige Weg hinauf und hinunter. Wenn Delaney in den Turm kam, während sie dort oben waren, saßen sie wie Ratten in der Falle. » Sorcha«, zischte er. » Wo sind Sie?«
Als er keine Antwort bekam, fluchte er leise, kontrollierte die Sicherung an seinem Gewehr und folgte ihr die steinernen Stufen hinauf. Im ersten Stockwerk kam er in einen kreisrunden Gang, von dem auf allen Seiten leuchtend rote Türen abgingen. Sie standen offen. Er warf einen Blick in die Zimmer und stellte fest, dass sie, abgesehen von einem Waschraum mit Dusche, Waschtisch und Toilette, völlig leer waren, ohne irgendwelche Möbel oder Dekoration. In einer Mauernische neben dem Badezimmer lag ein Stapel mit makellos sauberem Leinen bezogener Matratzen, Polster und Kissen. Obendrauf lagen ein dünner Strick und ein Seil mit einem Knoten in der Mitte, beide aus geflochtener silberner Seide.
» Sorcha? Sorcha, wo sind Sie?« Immer noch keine Antwort. Als er zur Treppe zurückging, sah er auf dem blassen Steinboden eine
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