Der Kulturinfarkt
südlichen Europas gar nicht zu reden. Die Krise schlägt auf die Haushalte durch. Der Traum, dass Kultursubventionen am Ende des Tages mehr Einkünfte für den Staat generieren, hat sich in Luft aufgelöst. Also wird auch die etablierte Kultur leiden.
Unter diesem Blickwinkel ist die Frage nach der kulturellen Infrastruktur die Schicksalsfrage der europäischen Kultur – nur nicht in dem Sinne, dass sie unantastbar, also für Europa konstitutiv sei, sondern genau umgekehrt: dass sie einen zu großen Teil der kulturellen Mittel absorbiert und durch ihr pures Gewicht Entwicklung verhindert. Der Rückbau muss kommen, nicht wegen der wirtschaftlichen Krise, sondern wegen der Immobilität, in die das kulturelle System geraten ist. Die Krise der öffentlichen Haushalte hat das bloß ins Licht gerückt. Dabei mag es bezeichnend sein, dass es eine außerkulturelle Kraft ist, die das System infrage stellt, und keine systemimmanente, wie man das von der Kultur erwarten dürfte. Wir lesen das als Beweis, dass der Preis für die umfassende Subventionierung die Starre ist: parlamentarische Demokratie ist eine Vorlage für neue Versprechen, nicht für den Rückbau, der immer Wähler kostet.
Keines der Argumente, mit denen die Kulturpolitik in den siebziger Jahren den Ausbau der kulturellen Infrastruktur einleitete, hält der Überprüfung noch stand. Ein dichtes Angebot begünstige die erwünschte Rezeption, lautete der Grundtenor. Es leuchtet ein, dass ein interessantes Angebot zur Rezeption einlädt. Der Mechanismus, dass man den Konsumenten über das Angebot erzeuge, spielt allerdings auf einem sehr tiefen Niveau, nämlich da, wo die kulturelle Infrastruktur praktisch inexistent ist, wo Bibliothek, Museum, Konzertbühne schlicht nicht vorhanden sind. Doch seit die Vermehrung der Produktionsstätten in Gang gekommen ist mit der Absicht, Kultur für alle physisch zugänglich zu machen, ist die Vermehrung selbst, nicht etwa die Zugänglichkeit, der Zweck der Übung. Der Motor sind nicht mehr die hungrigen Konsumenten, sondern die geförderten Nutznießer, die immer feinere Segmente kultureller Produktion zu institutionell gesicherten Domänen erklären. Zu den Kunstmuseen gesellen sich die Kunsthallen, zu den Kunsthallen die Kunst im öffentlichen Raum. Zu den Ensembletheatern kommen die freien Truppen, die Gastspielhäuser, die Theaterfestivals, die Produktionszentren der freien Szene. Zu den Bibliotheken fügen sich die Literaturhäuser, die Schreibateliers, die Stadtschreiber.
Allein, es sind immer dieselben fünf Prozent, welche das Angebot ernsthaft nutzen. Selbst in der DDR , vom Westen gepriesen als Paradies einer politisch gedemütigten, dafür umso kultursüchtigeren Bevölkerung, verharrten die Nutzungsquoten der Kulturhäuser bei sechs Prozent der Bevölkerung. Die Infrastruktur, zu der auch die (immer zahlreicheren) Sammlungen und Archive gehören, welche der Kulturmaschine und der Forschung als Fundus dienen, kostet pro Nutzer deshalb – wie alles andere auch – immer mehr. Das Kostenwachstum, dem der öffentliche Haushalt ausgeliefert ist, erdrückt dann jene Bereiche, in denen es keine gesetzlichen Garantien gibt.
Das zweite Argument für den Ausbau der Infrastruktur lautete, die Kultur müsse zu den Leuten gehen, um sie zu erreichen. Es funktioniert nicht, der Reiz ist erschöpft. Die Zutrittsschwellen zu senken hat nicht dazu geführt, dass sie häufiger überquert werden, ganz abgesehen davon, dass der Kulturbetrieb, um sich seiner Ansprüche zu versichern, den einfacheren Zutritt durch erhöhte Abstraktion sofort wieder kompensiert. Ganz allgemein gilt: Was sich aufdrängt, verliert an Anziehungskraft. Wo es um alltägliche Nähe zu den Menschen geht, leistet, wenn schon, die Laienkulturarbeit mehr. Was den professionellen Sektor angeht, verbindet sich Kulturgenuss mit Distanz. Museen besuchen viele mit Vorliebe im Urlaub oder während des Städte-Weekends. Die Oper in Berlin ist viel aufregender als die zu Hause.
Vor der Haustür heißt heute im Umkreis von 100 Kilometern. So viel Distanz kann man den Kulturkonsumenten heute zumuten. Die Kommunalisierung der Hochkultur, wie sie das Programm einer »Kultur für alle« ausgelöst hatte, weckte zweifellos Interesse an der neuen Kultur, solange es um die Neugestaltung der Gesellschaft ging. Die Kommunalisierung hat die Hochkultur aber auch kommun gemacht, gewöhnlich. Das war in den Siebzigern und Achtzigern höchst erwünscht, als es noch darum ging, die
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