Der kurze Sommer der Anarchie
die eine Hälfte der Bereitschaftspolizei zu entwaffnen und die Gewehre den Arbeitern zur Verfügung zu stellen. Escofet weigert sich. Er behauptet, seine Leute würden bis zum letzten Augenblick ihre Pflicht tun; er könne keine einzige Waffe entbehren.
Um 4.30 Uhr klingelt im Polizeipräsidium das Telefon. »Es ist soweit, die Truppen in Montesa und Pedralbes verlassen ihre Kasernen.« Ascaso und Durruti greifen zu ihren Waffen und verlassen das Präsidium. Santillan und Garcia Oliver packen den wachhabenden Offizier an seinem Waffenrock: »Wo sind die Pistolen? Machen Sie schnell!«
Abel Paz 1
Um fünf Uhr früh kommt es vor dem Regierungspalast zu einem Auflauf. Die Wachen sind nervös. Eine Menschenmenge aus Barceloneta drängt gegen das Portal. Die Situation ist kritisch. Durruti, der eben gekommen ist, weiß, was die Demonstration bedeutet. Er tritt auf den Balkon. Die Hafenarbeiter erkennen ihn und verlangen, daß die Wachen eine Delegation in den Palast einlassen, die mit dem Verbindungskomitee sprechen soll. In diesem Augenblick geschieht etwas Merkwürdiges. Die tödliche Spannung zwischen den Demonstranten und der Palastwache, die aus Bereitschaftspolizisten besteht, bricht zusammen. Die militärische Disziplin gerät ins Wanken. Es kommt zur Verbrüderung zwischen Arbeitern und Wachen. Ein Gardist nestelt an seinem Gürtel und gibt seine Pistole einem Arbeiter ab. Bald werden auch die Gewehre an die Menge ausgeteilt. Vor den Augen der Offiziere kommt es zu einem erstaunlichen Ereignis: Polizisten verwandeln sich in Menschen.
Abel Paz 1 / Diego Abad de Santillan 2
Die Sirenen
Der erste Schein des neuen Tages erleuchtet die unscheinbaren Fassaden der Straßen Pujadas, Espronceda und Llull. Zahlreiche bewaffnete Männer halten die Umgebung des Fußballplatzes besetzt. Sie tragen fast alle blaue Overalls. Zwanzig ausgesuchte Aktive sollen das Verteidigungskomitee der Anarchisten begleiten; jeder von ihnen ist mit dem Straßenkampf vertraut. Die Waffen sind in zwei Lastwagen verladen worden. Ricardo Sanz und Antonio Ortiz stellen auf dem Dach des ersten Wagens ein MG auf. »Genossen, das Stadtteil-Komitee des Sans-Viertels hat soeben angerufen.
Die Truppen verlassen ihre Kasernen!« Der Melder ist ganz außer Atem. Auf den Baikonen in der Nachbarschaft sieht man Frühaufsteher. Erwartungsvolle, solidarische, aber auch ängstliche Mienen. Die Militanten des Viertels sammeln sich am Fußballplatz. Wer eine Pistole hat, zeigt sie vor. Die Übrigen verlangen nach Waffen. Der Vorrat wird verteilt.
»Was machen wir? Warten wir auf die Sirenen?« fragt Durruti. Die Chauffeure lassen die Motoren an. In der Ferne hört man ein langgezogenes Heulen: die erste Fabriksirene. Es fällt kein Wort. Das Heulen wächst an und kommt näher, immer mehr Sirenen stimmen ein. Die Leute stürzen auf die Balkone. Die Mitglieder des Komitees und ihre Eskorten steigen auf die Lastwagen.
»Es lebe die FAI!«
»Es lebe die CNT!«
»Es geht los!«
Die Lastwagen fahren an, ihre Besatzungen erheben die Waffen. Die schwarzrote Fahne, an einer Latte gehißt, entfaltet sich im Fahrtwind. Im ersten Gang geht es die Ramblas von Pueblo Nuevo hinunter. Immer mehr Wagen schließen sich an. Die Anführer zeigen der Menge die MGs, die auf die Zuschauer wie Symbole der Entschlossenheit wirken. Zurufe von Dächern und Baikonen grüßen Durruti, Ascaso, Garcia Oliver, Jover und Sanz. Die Sirenen heulen immer noch, ihre Stimme kommt aus den schäbigen Wohnvierteln des Industriegürtels von Barcelona, eine proletarische Stimme, die die Arbeiter mitreißt, die Stimme ihrer Mobilisierung.
Die aktiven Anarchisten haben die Nacht in den Gewerkschaftslokalen, in ihren Komitees und Hinterzimmern zugebracht. Jetzt strömen sie auf das Stadtzentrum zu. Die Gruppen von Sans, Hostafrancs und Collblanc, die »Murcianer« von der Torrassa, die CNT-Leute aus Casa Antunez bewegen sich auf die Plaza de Espana und den Paralelo zu; ihr Ziel ist die Pionierkaserne von Lepanto. Die Textilarbeiter der Firma La Espana Industrial, die Metallarbeiter von Escorsa und Siemens und vom Glühlampenwerk Z, die gerade im Streik sind, Maurer und Gerber, Schlachthof-Arbeiter und Müllfahrer, Taglöhner, und dazwischen ein paar Sänger vom Clave-Chor, Subproletarier aus den Slums von Montjuich und auch ein paar Revolverhelden aus Pueblo Seco: sie kommen alle. Auch die Gemüsebauern von Gracia sind dabei, die von jeher revolutionäre und anarchistische Neigungen hatten, Arbeiter
Weitere Kostenlose Bücher