Der Kuß der Schlange
wiederzusehen.
Und dann hat er überlegt. Also schrieb er diesen Beschwerdebrief an Griswold, um mich aus dem Feld zu räumen, denn er wußte, daß ich wußte … Immer noch bestand ja für ihn die Möglichkeit, davonzukommen und zu erreichen, was er wollte, nämlich ein gemeinsames Leben mit dieser Frau. Nicht, wie er es anfangs geplant hatte, nicht einfach ein Umzug nach London, und dann nach ein paar Wochen eine Freundschaft mit einem Mädchen – der einsame Witwer, der bei einer neuen Freundin Trost sucht, und die er, wenn genug Zeit verstrichen ist, heiraten kann. Das nicht – jedenfalls jetzt nicht mehr. Auch wenn er Griswold an der Nase herumgeführt hat, das konnte er sich jetzt nicht mehr trauen. Der Handabdruck war nun mal gefunden worden, und so sehr es auch den Anschein hatte, als ignorierten wir ihn, er konnte doch nicht hoffen, daß das glatt ginge – eine Werbung in aller Öffentlichkeit und dann eine Heirat mit einer Frau, deren Hand sie verraten konnte, und zwar jedem verraten konnte, nicht bloß einem Experten.«
»Was kann er also tun?«
»Er hat zwei Möglichkeiten«, sagte Wexford. »Entweder er und die Frau sind übereingekommen, sich zu trennen. Vermutlich ist die Freiheit, selbst wenn man sehr verliebt ist, den Freuden der Liebe vorzuziehen. Ja, sie könnten sich getrennt haben.«
»›So laß uns scheiden denn für immer, gelöst sei alles, was wir uns gelobt …‹ Die nächsten Zeilen passen sogar noch besser: ›Und wenn wir je einander wiedersehen, darf uns’rer heißen Liebe Schimmer kein Aug auf uns’rer Stirn erspäh’n.‹ Oder aber«, fuhr Wexford fort, »sie haben sich für Zusammenkünfte im geheimen entschieden; sagen wir pathetisch, ihre Leidenschaft hat für sie entschieden, denn die Liebe war stärker als sie: Nicht zusammen zu leben, sich nie in der Öffentlichkeit zu treffen, sondern sich so zu verhalten, als hätte jeder von ihnen einen eifersüchtigen Ehepartner.«
»Was, und das für immer und ewig?«
»Vielleicht. Bis es von selbst zu Ende geht, oder aber bis sie eine andere Lösung finden. Und genau das, denke ich, tun sie, Howard. Wenn es nicht so wäre, warum hat er sich dann eine Wohnung im Nordwesten von London ausgesucht, wo ihn niemand kennt? Warum nicht südlich des Flusses, wo seine Mutter lebt und seine Tochter? Oder irgendwas in der Nähe seiner Arbeitsstelle? Er verdient jetzt ein sehr ordentliches Gehalt. Er hätte sich genausogut eine Wohnung in Central London nehmen können. Er hat sich dort oben versteckt, damit er sich abends wegschleichen und mit ihr Zusammensein kann.
Ich werde sie aufspüren«, schloß Wexford nachdenklich. »Es wird mich ‘ne Stange Geld kosten und meine Freizeit obendrein, aber versuchen muß ich es einfach.«
12
Mit der Beschreibung ›nicht gerade ein richtiger Spion‹ hatte Wexford Ginge Matthews ein wenig unterbewertet. Die kläglichen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, verbitterten ihn. Besonders ärgerte ihn, daß Ginge sich weigerte, das Telefon zu benutzen. Ginge war sehr stolz auf seine gewählte Ausdrucksweise, die er aus Zeugenstandsauftritten einfältiger, meist sehr junger Constables gewonnen hatte, deren wortreichen Erläuterungen er von der Anklagebank aus zuhörte. In Ginges Berichten ging der Beobachtete nie irgendwohin, sondern er ›begab sich‹; seine Wohnung war sein ›Domizil‹, und statt nach Hause zu gehen, ›retirierte‹ er oder ›zog sich dorthin zurück‹. Aber um Ginge gerecht zu werden, mußte Wexford fairerweise zugeben, daß er zwar während dieser vergangenen Monate nichts über die geheimnisvolle Frau erfahren hatte, wohl aber eine Menge über Hathalls Lebensweise.
Nach Ginges Beschreibung war das Haus, in dem er seine Wohnung hatte, ein großes, dreistöckiges Gebäude und stammte – wie zwischen den Zeilen zu ersehen war – aus der Zeit Edwards VII. Hathall hatte keine Garage, sondern ließ seinen Wagen auf der Straße stehen. Aus Knauserigkeit oder wegen der Schwierigkeit, eine Mietgarage zu finden? Wexford wußte es nicht, und Ginge konnte es ihm auch nicht sagen. Hathall ging morgens um neun zur Arbeit, lief entweder zu Fuß oder stieg in einen Bus von West End Green zur U-Bahn-Station West Hampstead, wo er die Linie Bakerloo (vermutlich) Richtung Piccadilly nahm. Wieder nach Hause kam er kurz nach sechs, und verschiedene Male hatte Ginge, der in einer Telefonzelle gegenüber von Dartmeet Avenue 62 lauerte, ihn danach wieder mit dem Wagen wegfahren sehen.
Weitere Kostenlose Bücher