Der Kuss des Anubis
hoch.
»Ich kenne deinen Vater länger und besser als du«, sagte sie. »Ramose war nicht immer der Ehrenmann, als der er sich heute gibt. Vielleicht haben ihn gewisse Umstände dazu gebracht …«
»Du hältst ihn für schuldig? Und Ani womöglich gleich mit dazu? Dann gehört in deinen Augen ja unsere halbe Familie zu den Verbrechern!« Miu war so wütend, dass sie am liebsten etwas an die Wand geworfen hätte. »Wenn du das glaubst, hättest du auch gleich in deinem Mennefer bleiben können!«
»Werde jetzt bitte nicht unverschämt, Miu!«, sagte Sadeh, die ebenfalls mühsam um Fassung rang. »Es ist doch niemandem damit gedient, wenn wir beide uns streiten. Wir müssen vielmehr …«
»Gar nichts müssen wir! Ich bin schon lange kein Kind mehr, das du nach Belieben herumschubsen kannst, sondern weiß selber, was zu tun ist. Zweimal gab es einen Anschlag auf das Leben von Tutanchamun. Zweimal ist er durch mich gerettet worden. Der Pharao schuldet mir etwas - und genau daran werde ich ihn heute erinnern!«
»Sag du doch auch etwas, Mutter«, bat Sadeh, als Raia jetzt zu ihnen trat. »Miu will unbedingt in den Palast, um
für Ramose zu bitten, aber ich bin dagegen. Was, wenn der Pharao die Situation ausnützt und sie zwingt …?«
»Lass sie gehen, Tochter«, sagte Großmama leise. »Das ist der einzige Faden, an dem sein Leben noch hängt.«
So machte Miu sich also auf den Weg, mit schweißnassen Händen und einem Zittern im Magen, das nicht aufhören wollte. Raia hatte ihr geholfen, sich halbwegs anziehend herzurichten, ihr das Haar frisiert und die Augen geschminkt, doch niemals hatte Miu sich hässlicher gefunden als an diesem strahlenden Morgen.
Die ersten Erntevorbereitungen hatten bereits begonnen. Nicht mehr lange, und es würde wieder von Steuerinspektoren wimmeln, die die Höhe der Abgaben festlegten. Nach der satten Überschwemmung war mit einem Höchstbetrag zu rechnen. Der Hapi hatte es dieses Jahr gut mit dem Pharao gemeint und die Unzufriedenheit im Volk schien verschwunden zu sein.
Miu hatte für all das kaum einen Blick. Nicht einmal die Graureiher, die majestätisch aufflogen, als die Fähre endlich ablegte, interessierten sie heute. Die Angst hatte sie fest im Griff. Ani und Papa - wie konnten sie nur beide in diesen ungeheuerlichen Verdacht geraten sein?
Eigentlich hätte sie jetzt nach einer geeigneten Strategie grübeln müssen, nach den richtigen Worten, um Tutanchamun gnädig und mild zu stimmen, doch ihr Kopf war heiß und leer, und außer ein paar zusammenhanglosen Brocken wollte ihr plötzlich gar nichts mehr einfallen.
Aufgeregt drehte sie an der kostbaren Armspange, die sie noch im letzten Moment angelegt hatte. Als Dank für den kleinen Löwen , der mein Leben gerettet hat - so oder so ähnlich
hatte er es doch gesagt. Vielleicht würde ihn ja der Anblick dieses Geschenks zur Gnade bewegen.
Den Weg zum Palast legte sie wie in Trance zurück. Erst als sie vor dem großen Tor stand, fand sie in die Wirklichkeit zurück. Heute fühlte sie sich wie die allerärmste Bettlerin und dabei lagen doch gleich zwei Schicksale in ihren Händen. Am liebsten wäre sie weggelaufen und hätte sich irgendwo verkrochen. Aber es ging nicht. Sie musste stark und mutig sein. Davon hing alles ab.
Der Wächter, der ihr öffnete, kannte sie, das war schon mal ein gutes Zeichen. Allerdings musste sie die Frage, ob sie zu einer Audienz geladen sei, verneinen.
Das Tor wollte schon wieder zugehen, da rief Miu:
»Warte! Ich muss den Pharao trotzdem sprechen - sag ihm, es gehe um Leben und Tod!«
Sie ließen sie draußen warten, vor dem geschlossenen Tor, eine lange, lange Weile sogar, und Miu dachte schon, sie würde niemals eingelassen werden, als das Tor sich plötzlich wieder öffnete. Drinnen nahmen die Männer der Leibwache sie in Empfang und brachten sie - zu Mayet.
Die Königsamme empfing Miu in einem hellen Raum mit bunten Wandfresken und zögerte nicht, ihr Unverständnis augenblicklich kundzutun.
»Du darfst dich ihm nicht aufdrängen, Mädchen«, sagte sie. »So was mögen die Männer nicht, selbst wenn sie noch so sehr entflammt sind. Sie wollen die Jäger sein, das musst du dir merken. Und Tutanchamun allen voran!«
»Deshalb bin ich nicht hier, Mayet.« Nur mit Mühe gelang es Miu, die Tränen zurückzuhalten, die all die schöne Schminke ruiniert hätten. »Sie haben Papa verhaftet. Und Ani. Ich will den Pharao bitten, dass er …«
Mayet wich sofort zurück.
»Damit will ich
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