Der Kuss des Anubis
hinter seiner Aufgebrachtheit spürte sie noch etwas anderes, etwas Flatterndes, Verzweifeltes, das ihr Angst machte, weil sie es nicht richtig einzuschätzen wusste. »Dich heimlich wegzuschleichen, trotz meines Verbots - dachtest du etwa, ich würde nicht dahinterkommen? Dein Vater sieht und hört alles! Das solltest du dir für die Zukunft merken!«
»Wieso bist du nicht einfach ehrlich zu mir, wenigstens ein einziges Mal?«
Mit diesem Vorwurf hatte sie ihn getroffen - allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Dann legte sich erneut die Maske väterlichen Zorns über sein Gesicht. Tagelang hatte Miu auf diese Auseinandersetzung gewartet, eine bleierne Zeit, in der ihr Vater ihr ausgewichen war, als fehle ihm die Kraft dafür. Wäre sie heute nicht direkt auf ihn zugegangen, weil sie endlich diesen unguten Zustand
beenden wollte, sie würde garantiert weiterhin wie eine Gefangene herumhocken und darauf warten, dass irgendetwas geschah!
»Hast du jetzt jeglichen Respekt verloren?« Ramose war sehr laut geworden.
»Hab ich nicht. Aber du verheimlichst mir doch etwas. Das spüre ich ganz genau!«, konterte Miu.
»Weil manche Dinge dich nichts angehen. Später vielleicht einmal. Doch jetzt ist es dafür noch zu früh.« Es war heraus, bevor er noch richtig überlegt hatte. Und hätte Ramose gekonnt, er hätte seine Worte wohl zurückgenommen, so betreten schaute er auf einmal drein.
»Sag mir, was du gegen Iset und ihre Familie hast.« Auf einmal war Miu ganz ruhig. Würde er nun endlich mit der Wahrheit herausrücken?
Ramoses Hände nestelten an seinem Schurz, der neu war, gestärkt und reich gefältelt, aber keineswegs gut saß. Das Essen schmeckte ihm nicht mehr, schon tagelang, was Anuket kränkte, die sich die Schuld dafür gab und nicht müde wurde, ihm immer neue Leckerbissen aufzutischen. Doch trotz all ihrer Mühe hatte sein Bauch die Rundung verloren und war wieder flach wie in Jugendtagen.
»Du wirst lernen müssen, dich an meine Anweisungen zu halten, wenn du keinen Ärger willst. Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit, Mutemwija!«
»Immer nur drohen und drohen, weil du glaubst, der Stärkere zu sein. Das hätte Mama niemals nötig gehabt, wenn sie noch am Leben wäre!«
»Lass deine Mutter aus dem Spiel!« Sein Ton war noch gereizter geworden. »Sadeh ist …«
»… tot! Glaubst du, das könnte ich auch nur einen
Atemzug lang vergessen? Aber heißt das denn, dass man sie nicht mehr erwähnen darf?«, schrie Miu. »Von ihr zu reden, ist doch alles, was mir geblieben ist. Dass du so gemein sein kannst, mir selbst das zu verbieten! Aber am liebsten würdest du mir ja ohnehin alles nehmen, jetzt auch noch meine Freundin, doch das lass ich mir nicht gefallen, hörst du …«
Sie rannte hinüber in ihr Zimmer, schmetterte die Tür hinter sich zu und ließ sich auf das Bett fallen. Pau, gemütlich am Kopfende eingenickt, schreckte hoch und schoss unter den nächsten Stuhl, während Miu von Schluchzern geschüttelt wurde. Nach einer Weile des Abwartens schien die Katze sich anders zu besinnen und kam langsam wieder zurück.
»Tut mir leid«, sagte Miu tränenüberströmt und streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu streicheln. »Du warst natürlich nicht gemeint, meine Schöne! Aber es ist einfach nicht mehr auszuhalten mit ihm! Alles mache ich falsch. Und erlauben will er mir rein gar nichts. Bin ich vielleicht einer seiner Sarkophage, aus totem Holz gezimmert …« Sie hielt inne.
Die Tür hatte sich geöffnet.
Ramose kam herein, die Unterlippe leicht vorgeschoben, wie immer, wenn ihm etwas leidtat, er aber noch nicht ganz über seinen Schatten springen konnte. Bei seinem Anblick warf Miu sich erneut auf das Bett und presste ihr Gesicht gegen die Decke.
»Warum musst du immer so bockig sein?«, sagte er leise. »Alles, was ich von dir verlange, geschieht doch nur zu deinem Besten! Hast du so wenig Vertrauen zu deinem alten Vater?«
Seine warme Hand legte sich auf ihren Rücken. Es fühlte sich gut an, doch das zeigte sie ihm nicht.
»Vielleicht bist du ja tatsächlich schon erwachsener, als ich es manchmal wahrhaben möchte«, fuhr er fort. »Und es ist eigennützig von mir, dich noch länger behalten zu wollen. Viele Mädchen in deinem Alter sind bereits verheiratet oder stehen kurz davor. Wenn also auch du in diese Richtung denken solltest, Miu, so hätte ich nichts dagegen. Das wollte ich dir schon lange sagen.«
Jäh hatte sie sich zu ihm herumgedreht.
»Wer ist es
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