Der Kuss des Anubis
gegeben, diesen ständigen Drang, mehr zu schaffen. Den anderen hatte er beweisen wollen, was wirklich in ihm steckte, allen voran Sadeh, seiner schönen, stolzen Frau. Deshalb war er auch bereit gewesen, mehr zu riskieren.
Alles zu riskieren.
Doch wohin hatte ihn das gebracht?
Heute war er angesehen und reich. Waset achtete und respektierte ihn. Sadeh jedoch hatte er für immer verloren.
Vielleicht waren es genau diese Erinnerungen, die ihn nicht direkt zur Fähre führten, sondern einen kleinen Umweg einlegen ließen. Die Menschen, zu denen es ihn hinzog, waren Gefährten aus alten Tagen, die mit ihm die Erlebnisse in der Sonnenstadt geteilt hatten. Wehmut hatte ihn hierher geführt, das Gefühl unwiederbringlichen Verlusts.
Ramose merkte es selber erst, als er schon vor der Schenke Zum Graureiher stand.
Nach kurzem Zögern trat er ein.
Nur ein paar Tische waren besetzt, zumeist von übernächtigten Fischern, die gerade von ihrer anstrengenden Arbeit zurückgekommen waren. Oder gab es noch andere Dinge, die sie in ihren Netzen hatten? Sein alter Zweifel bekam neue Nahrung. Es konnte kein Zufall sein, dass Nefer sich ausgerechnet für diese Schenke am Fluss entschieden hatte, ein idealer Umschlagplatz, an dem so manches den Besitzer wechseln konnte!
Ganz hinten saßen zwei Polizisten, ins Gespräch vertieft.
»Ramose!« Taheb kam lächelnd auf ihn zu. »Dass du endlich mal wieder den Weg zu uns gefunden hast - ich freue mich!«
»Ist Nefer auch schon wach?«
»Mein Mann, diese Nachteule, der es Abend für Abend immer später werden lässt, sollte schon wach sein? Meinst du das wirklich ernst? Da musst du später noch mal wiederkommen. Aber meinen tüchtigen Sohn kannst du sprechen, wenn du willst.«
Der Tonfall verriet ihren Stolz.
»Ani sitzt dort drüben, mit einem seiner Kollegen. Die beiden kommen direkt von der Nachtwache. Sie sollen Grabräuber dingfest machen. Als ob das so einfach wäre! Und gefährlich kann es auch werden. Solche Kerle, die nicht mal Respekt vor toten Königen haben, schrecken doch vor nichts zurück! Ich hab den beiden jedenfalls erst mal was Vernünftiges zu essen hingestellt. Das kann niemals schaden!«
Ramoses Magen begann zu knurren. Aber jetzt war nicht die Zeit für eine entspannte Mahlzeit.
»Ich muss gleich weiter«, sagte er. »Leider.«
Taheb musterte ihn eingehend.
»Müde siehst du aus. Und irgendwie bedrückt. Ist irgendwas mit der Familie?«
Ramose machte eine abwehrende Handbewegung.
»Soll ich Nefer etwas ausrichten?«, fragte sie weiter. »Willst du, dass er dich in der Werkstatt besucht?«
Das war das Letzte, was Ramose gewollt hätte! Plötzlich schämte er sich für seine Schwäche.
»Lass gut sein«, sagte er und nickte Ani, der inzwischen auf ihn aufmerksam geworden war und ihm zuwinkte, einen Gruß zu. »Ein anderes Mal vielleicht.«
Er musste laufen, um die Fähre noch zu kriegen, was er hasste, denn dabei begann er zu schwitzen. Ramose konnte es nicht ausstehen zu schwitzen. In seinem Beruf durfte man sich keinerlei Nachlässigkeiten leisten. Wer wie er tagtäglich das Reich des Anubis betrat und wieder verließ, musste reinlicher und gepflegter sein als andere. Deshalb gab es in einem kleinen Anbau neben der Werkstatt auch ein separates Badezimmer, wo er all seine Kostbarkeiten hortete, die ihn vor jeglicher unangenehmer Ausdünstung bewahren sollten.
Er wünschte, er könnte sich jetzt von Kopf bis Fuß waschen und anschließend mit seinen Ölen und Essenzen beträufeln, doch leider gab es zuvor anderes zu erledigen.
Um sich abzulenken, schaute er auf den Fluss.
Die Morgennebel, typisch für diese Jahreszeit, hatten sich bereits gelegt. Die Luft war klar und der Himmel so blau wie feinster Lapislazuli. Die Fähre hatte noch nicht
angelegt, da sah er sie schon nebeneinanderstehen: Miu und die Tochter Pacheds. Mit grimmigem Gesicht bereitete er sich auf das Aussteigen vor.
Die beiden starrten ihm ängstlich entgegen.
»Es war meine Schuld«, rief Iset, kaum dass sein Fuß wieder festen Boden betreten hatte. »Ich war so traurig. Da hat Miu mich aufheitern wollen. Und darüber haben wir leider die Zeit ganz vergessen …«
»Kommst du, Mutemwija?«, unterbrach er sie.
Ein schlechtes Zeichen, dass er sie so nannte. Ein ganz schlechtes Zeichen!
»Es tut mir leid, Papa«, sagte sie schnell. »Ich wollte Iset doch nur …«
»Wir beide unterhalten uns später.« Seine Stimme war eisig.
Iset ließ er zurück, ohne ein Wort des
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