Der Kuss Des Daemons
Stück Sperrholz, auf dem noch ein alter Plakatfetzen klebte, lag auf meinem Weg. Gerade wollte ich mich bücken, um es mitzunehmen und zu dem übrigen Müll zu stopfen, als über mir ein Knall und ein Krachen erklang. Ich riss den Kopf in die Hohe. Plötzlich schien alles gleichzeitig zu geschehen. Und obwohl ich wie gelähmt auf den herabstürzenden Wust aus Seilen und Brettern über mir starrte, hatte ich das Gefühl, mit einem Mal alles um mich herum in einem vollen Dreihundertsechzig-Grad-Winkel wahrnehmen zu können. Da waren die anderen, die mit aufgerissenen Augen zu mir her und nach oben sahen. DuCraine, der an der Seite der Bühne mit der ihm eigenen gefährlichen Geschmeidigkeit in den Schatten herumfuhr. Das zischende Geräusch, mit dem ein Seil sich irgendwo durch Flaschenzüge schlängelte, während etwas in mir »Renn!« schrie und mein Verstand gar nicht begriff, was diese Stimme von mir wollte. Ich starrte einfach nur auf das dunkle Gebilde, das auf mich zustürzte. Im allerletzten Bruchteil der Sekunde, vor der es mich unter sich begraben hätte, wurde ich zur Seite gerissen. Ich schlug hart auf den Boden auf. Etwas - jemand - lag mit seinem ganzen Gewicht auf mir und hielt die Arme über seinen und meinen Kopf, während um uns herum Holz-und Metallstücke herabprasselten. Wieder erklang
ein
Krachen,
gefolgt
von
dem
Unheil
verkündenden Zischen, und ein weiterer Teil der Bühnenmaschinerie geriet über uns in Bewegung. Dieses Mal schaffte ich es zu schreien. Sehr laut und sehr durchdringend. Einen Sekundenbruchteil später rollte ich an eine harte Brust gepresst über den Boden. Dort, wo wir eben
noch
gelegen
hatten,
krachte
eine
ganze
Arbeitsgalerie auf die Bühne. Seile schlugen zu beiden Seiten davon auf. Dann schrie ich wieder, weil unvermittelt kein Boden mehr unter uns war und ich ins Nichts zu fallen glaubte. Das Nichts endete nach etwa einem Meter auf dem Saalboden zwischen dem Bühnenrand und einer Mauer aufeinandergestapelter Stühle. Unter mir lag Julien DuCraine. Seine Arme hielten mich so fest umklammert, dass ich kaum atmen konnte. Mein erschrockenes Gesicht spiegelte sich in den dunklen Gläsern seiner Brille. Sie war verrutscht. Über ihre Ränder hinweg blickte ich in seine Augen. Sie waren grau. Ein seltsam schimmerndes und glimmendes Grau, das seine Schattierung fortwährend zu ändern schien. Quecksilbern. Er erwiderte meinen Blick. Die Zeit stand still - einfach so. Seine Hand bewegte sich meinen Rücken aufwärts, legte sich in meinen Nacken, zog mich tiefer ...
»Ist euch etwas passiert? Seid ihr verletzt?«
Die Zeit machte einen erschrockenen Satz und tickte dann hastig weiter, um aufzuholen, was sie versäumt hatte, als Mr Barrings auf uns zugehumpelt kam, so schnell ihm das seine Krücken erlaubten. DuCraine stieß unter mir ein Grollen aus, das jedem missgelaunten Löwen Ehre gemacht hätte, nahm die Arme von meinem Rücken, schob die Brille an ihren Platz zurück und schubste mich gleichzeitig von seiner Brust. Ich landete zwischen den aufgestapelten Stühlen und hätte sie um ein Haar zum Einsturz gebracht. Hinter Mr Barrings scharten sich die anderen um uns. Aufgeregt redeten sie durcheinander, doch meine ganze Aufmerksamkeit galt der Bühne. Genauer gesagt den Brettern, Seilen und Metallteilen, die in einem einzigen Trümmerhaufen darauf verteilt waren. Dort, wo ich nur ein paar Sekunden zuvor noch gestanden hatte.
»Ist auch wirklich alles in Ordnung mit euch?«, fragte Mr Barrings noch einmal. Ich nickte schwach, rappelte mich zwischen den Stühlen auf und sah zu DuCraine. Auch er nickte, während er sich elegant vom Boden erhob, als wäre nichts geschehen. Mr Barrings stieß erleichtert den Atem aus. Ganz langsam sickerte ein Gedanke in meinen Verstand: Julien DuCraine hat mir gerade das Leben gerettet.
DuCraine schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn noch ehe ich den Versuch unternehmen konnte, mich bei ihm zu bedanken, schüttelte er den Kopf.
»Bilde dir bloß nichts ein, Warden. Du warst meine gute Tat für heute. Mehr nicht. Vergiss es also am besten ganz schnell wieder!«, knurrte er mich an, so leise, dass nur ich es hören konnte, dann schob er sich an mir vorbei und drängte sich durch die anderen hindurch. Sichtlich verwundert sah Mr Barrings ihm nach, als die Schatten auf der
gegenüberliegenden
Seite
der
Bühne
ihn
verschluckten. Mit einem Kopfschütteln drehte er sich wieder zu mir um, wobei ich ihn etwas wie
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