Der Kuss Des Daemons
die Geduld. »Ich will nicht, dass ihr euch meinetwegen benehmt wie Machos.«
Von einer Sekunde zur nächsten war er ernst. »Du verlangst also von mir, dass ich nicht mit Neal auf die Planche gehe?«
»Ja!«
Zu meinem Entsetzen schüttelte er den Kopf. »Das kann ich nicht. Er hat mich herausgefordert.«
»Aber das bedeutet doch nicht, dass du seine Herausforderung annehmen musst.«
»Das habe ich aber schon. - Und ich werde bestimmt nicht wie ein Feigling zurückziehen.« Julien sagte das so ruhig, als wären Duelle das Normalste der Welt.
»Bitte tu's nicht, Julien.«
Mit einer bedächtigen Bewegung schob er seine Brille in die Höhe und sah mir in die Augen. »Nein, Dawn. Auch wenn du es vielleicht nur schwer verstehen kannst: Ich kann nicht zurückziehen.« Mit einem Mal wirkte er nicht mehr wie zwanzig, sondern sehr, sehr viel älter. »In meiner... Familie steht die Ehre über allem anderen, weil sie manchmal das Einzige ist, was einem bleibt.« Er hob langsam die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Dein Freund Neal hat als Fechter eine vage Vorstellung von Ehre. - Er hat mich herausgefordert; er muss zurückziehen. Ich kann es nicht.«
Ich hätte ihn gerne gefragt, wo er aufgewachsen war, dass man ihn mit solch antiquierten Vorstellungen erzogen hatte, aber irgendwie war ich mir sicher, keine Antwort zu erhalten. Und ich hatte versprochen keine Fragen zu stellen. Also trat ich stattdessen dicht vor ihn und fasste mit beiden Händen seine Jacke. »Bitte. - Ich will nicht, dass einer von euch verletzt wird. Nicht meinetwegen.«
Meine Finger schlossen sich fester um den Stoff. Er erwiderte meinen Blick. Selbst seine Augen wirkten alt. So als hätten sie schon Dinge gesehen, die sie nie hatten sehen wollen. Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten.
Seine Hände waren kalt, als er sie über meine legte.
»Ich werde nicht zurückziehen. - Nein, lass mich ausreden, Dawn! - Aber ich werde ein paar Bemerkungen gegenüber dem Coach fallen lassen. Wenn er merkt, was läuft, lässt er Neal und mich nicht zusammen auf die Planche. Nicht nach dem, was beim letzten Mal passiert ist. - Das ist alles, was ich dir anbieten kann.«
Beklommen sah ich ihn an. Julien meinte es genau so, wie er sagte. Da ich offenbar keine andere Wahl hatte, nickte ich. Seltsamerweise schien er darüber erleichtert zu sein.
»Sehen wir uns nach Sport?«, fragte er nach einem Moment schließlich leise und strich sacht über meine Hände.
Ich zögerte. »Warum nicht davor?« Hatte er Angst, ich könnte noch mal versuchen ihn umzustimmen?
»Weil ich mich ziemlich beeilen muss, wenn ich vor deinem Freund Neal im Fechttraining sein will, um mit dem Coach noch ein bisschen zu plaudern, ehe er aufkreuzt.«
»O ja, entschuldige.« Verlegen biss ich mir auf die Lippe,
»Also dann, nach Sport. Wo treffen wir uns?«
»An den Bänken unter dem Ahorn? Zwischen Parkplatz und Cafeteria. - Und vielleicht überlegst du dir, ob du Lust hast, heute Nachmittag noch eine Tour mit der Blade zu machen. Ich werde mich deinetwegen auch ans Limit halten. Versprochen!«
»Dann an den Bänken.« Eigentlich hatte ich ihm einen Abschiedskuss geben wollen, doch Julien hatte mich losgelassen und war wieder auf Distanz gegangen, ehe ich mein Vorhaben umsetzen konnte.
»Du kommst zu spät in Erdkunde«, erinnerte er mich spöttisch, während er seine Brille zurechtschob. Ich schnaubte nur verächtlich, dennoch wandte ich mich nach einem letzten Lächeln ab und lief den Flur hinunter. Als ich mich noch einmal umdrehte, war Julien auf seine übliche lautlose Art schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Die ganze Erdkundestunde über war ich ein
Nervenbündel.
Ständig
blickte
ich
auf
die
Uhr.
Glückerweise hatte Beth auf mich gewartet und unser gemeinsames Zuspätkommen mit der gleichen »Dawn ist schlecht und wir waren an der frischen Luft«-Ausrede erklärt, mit der sie mich bereits bei Mrs Jekens entschuldigt hatte. Offenbar sah ich auch aus, als ginge es mir nicht besonders gut, denn Mr Sander - mitleidiger Mensch, der er war - fragte, ob ich nicht lieber nach Hause gehen wollte. Nein, ich wollte nicht! Das hätte bedeutet, Ella irgendwie zu erklären, warum ich früher aus der Schule zurück war als vorgesehen - und ihr die »Mir war übel«-Ausrede aufzutischen, hätte für mich unweigerlich zur Folge gehabt, den Nachmittag mit Kamillentee auf dem Sofa zu verbringen, und ganz nebenbei wäre ich vor Sorge verrückt geworden. Ich konnte gar nicht
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