Der Kuss Des Daemons
weder sein noch mein Magen meldete Hunger an - und hätten vermutlich auch den Beginn des Nachmittagsunterrichts verpasst, hätte nicht plötzlich Beth neben uns gestanden. Hinter ihr ragte Neal auf und warf einen missbilligenden Blick auf meine Hand, die in Juliens lag. Ich zog sie nicht zurück. Beth lächelte ein »Hi!« in Juliens Richtung, der eben seine Brille wieder aufgesetzt hatte, dann sah sie mich an.
»Ich habdich schon überall gesucht. Mrs Jekens hat in Mathe gefragt, wo du bist. Ich habe behauptet, dir sei schlecht und du wärst an der frischen Luft. - Nur damit du Bescheid weißt, falls sie dich sieht und fragt.«
Dankbar nickte ich ihr zu. »War sie sehr sauer?«
»Nicht anders als sonst. Du solltest nur aussehen, als sei dir tatsächlich schlecht, wenn du ihr heute noch mal begegnest. Ich weiß nicht, ob sie mir geglaubt hat, nachdem du die ganze Stunde nicht da warst. - Gehen wir zusammen in Erdkunde?« Sie schaute kurz von mir zu Julien, der nach einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr meine Hand losgelassen hatte und die Schachfiguren in ihre Schachtel zurückräumte.
Ich sah ihn ebenfalls an und grinste. Offenbar war jeder - einschließlich Beth - davon überzeugt, dass seine Einstellung bezüglich Schule sehr schnell auf mich abfärben würde, Julien gab das Grinsen wortlos zurück. Es war, als wüsste er um meine Gedanken, ohne dass ich sie aussprechen musste. Die Schmetterlingsinvasion in meinem Bauch stob auf und vollführte wilde Flugmanöver.
»Klar. - Was hast du jetzt?« Ich sah Julien an, während ich aufstand und mir meine Tasche umhängte.
»Biologie.« Das bedeutete, dass er ans entgegengesetzte Ende des Schulgebäudes musste. Er schob ebenfalls seinen Stuhl zurück und erhob sich. Obwohl Neal ihn feindselig anstarrte, stellte Julien das Schachspiel ungerührt an seinen Platz zurück, hob seinen Rucksack vom Boden auf und trat neben mich. Regungslos erwiderte er Neals Blick. Beinah war ich dankbar dafür, dass er nicht demonstrativ den Arm um meine Schultern legte. Dass Neal Julien so offensichtlich nicht leiden konnte, machte mir Sorgen. Wir verließen gemeinsam die Bibliothek. Beth
vorneweg, dann Julien und ich, Neal bildete den Abschluss. Ich drehte mich ein paarmal zu ihm um. Er beobachtete Julien noch immer voller Groll. Ich musste mit Neal reden!
Unbedingt!
Julien verzichtete diesmal darauf, mich und Beth zum Erdkundesaal zu begleiten, doch wie beim letzten Mal strich er mir zum Abschied zart über den Arm. Natürlich entging es weder Neal noch Beth. Sie lächelte mich an, aber Neal sah aus, als würde er Julien am liebsten den Hals umdrehen. Plötzlich war ich froh, dass Neal jetzt in Politik musste und die Tür zu seinem Unterrichtsraum sich nur wenige Meter den Korridor hinunter befand, sodass er und Julien zumindest nicht den gleichen Weg hatten. Ich winkte sowohl Julien als auch Neal kurz zu, dann machte ich mich mit Beth auf den Weg zu Erdkunde. Doch als ich Neal
»Kommst du ins Fechttraining, DuCraine?« hinter Julien herrufen hörte, hielt ich inne und drehte mich um. Auch Julien war stehen geblieben und wandte sich um.
»Ja«, antwortete er gelassen. Er hatte die Gangbiegung schon fast erreicht.
Neal maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Wir sehen uns auf der Planche.« Seine Worte klangen wie eine Herausforderung.
Julien schwieg einen Moment und sah an Neal vorbei zu mir, dann nickte er knapp. »Wie du willst, Hallern. Auf der Planche.« Damit machte er kehrt und verschwand um die Ecke. Auch Neal blickte jetzt zu Beth und mir, dann marschierte er entschlossen zum Geschichtssaal und ging hinein.
Einige Sekunden starrte ich in den leeren Korridor vor mir. Sie waren übergeschnappt! Alle beide! Ehe Beth mich aufhalten konnte, rannte ich Julien nach. Ich holte ihn auf halbem Weg zu seinem Bioraum ein.
»Ich will das nicht!«, platzte ich atemlos heraus. Er sah mich schweigend an. »Ich will nicht, dass ihr euch meinetwegen ... duelliert! Wir leben im 21. Jahrhundert und nicht im Mittelalter. Ihr müsst also nicht mit Schwertern aufeinander losgehen wie irgendwelche bescheuerten Ritter«, präzisierte ich ungeduldig, was ich meinte.
»Degen.«
»Was?«, verwirrt blinzelte ich.
»Wir werden nicht mit Schwertern aufeinander
losgehen, sondern mit Degen - auch wenn ich das italienische Florett eigentlich lieber mag«, erklärte er mir ungerührt.
»Degen, Florett, Schwert - es ist mir herzlich egal, womit ihr euch prügelt«, allmählich verlor ich
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