Der Kuss des Greifen (German Edition)

wie lebendig oder überzeugend diese Vision auch gewesen sein mochte.
    Aber sie hatte nie vergessen, wie sein Kuss gebrannt hatte. Nie hatte sie zugelassen, dass der niedere König, der ihr Ehemann wurde, sie auf den Mund küsste, und hatte diese Freiheit auch keinem ihrer anderen Geliebten gestattet. Nicht, dass sie gemessen an den vielen Jahren ihres Lebens allzu viele davon gehabt hätte. Nach einigen hoffnungsvollen Versuchen hatte sie es aufgegeben, weil die Männer nach dem Sex entweder einschliefen oder davonrannten und das alles so unerbittlich banal war, dass sie lieber ungeschützt ins Sonnenlicht gegangen wäre, als auch nur eine weitere dieser bedeutungslosen, faden Liebesbeziehungen zu erdulden.
    Während sie jetzt seine steife, halb von ihr abgewandte Gestalt betrachtete, sagte sie stumm: Ich habe mich heute Mittag in der Hotellobby in dich verliebt. Und alles, was du damals gesagt hast, ist eingetroffen. Aber es ist so viel Zeit vergangen. Zu viel Zeit. So viele Morgen und Morgen und Morgen, dass die Pharaonen tatsächlich nicht mehr existieren und alle Götter sich verändert haben und alles, was ich einst kannte, sich in Trümmer verwandelt hat oder ganz verschwunden ist. Wir haben zu spät zusammengefunden.
    Du musst leben, oder ich werde sterben.
    Jetzt bin ich diejenige, die stirbt, und du würdest es nicht überleben, dich mit mir zu paaren. In was für einen gordischen Knoten wir uns da verschlungen haben.
    Und wie Alexander der Große schon gewusst hatte, war die einzige Möglichkeit, einen unentwirrbaren Knoten zu lösen, ihn zu durchschneiden.
    Sie senkte den Blick auf die Tagesdecke.
    »Also gehen wir das noch mal durch«, sagte sie. Sie hatte ihre Stimme vollkommen unter Kontrolle. »Dank deiner Hilfe habe ich in wenigen Tagen unglaublich viel über meinen Zustand gelernt. Mehr sogar als in den letzten zwei Jahrhunderten. Und jetzt, da Dr. Telemar bald zur Konsultation hier sein wird, habe ich die Hoffnung, sogar noch mehr zu erfahren. Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet.«
    Er hatte sich umgedreht und sah sie an. Sie konnte es spüren, obwohl seine große, schwarz gekleidete Gestalt knapp außerhalb ihres Blickfelds stand. Unter einer Hand verborgen ballte sie die andere fest zur Faust.
    »Aber wir wissen beide, dass wir keine dieser seltsamen Zeitkollisionen mehr verursachen dürfen«, fuhr Carling fort. »Sie sind zu gefährlich für uns beide, und Gott allein weiß, was wir im Rest der Welt noch alles verändert haben. Außerdem wusste sie, dass sie ihrem jüngeren Ich in seiner Nähe nicht vertrauen konnte, nicht einen einzigen Augenblick lang. Wenn diese jüngere Carling ihn noch einmal sah, wäre sie niemals in der Lage, ihre Freude im Zaum zu halten – und sähe auch keinen Grund dafür. »Rune, es ist Zeit, dass du dich aus dieser Sache zurückziehst. Du hast mir genug geholfen. Du hast mit Sicherheit weit mehr getan, als irgendjemand hätte erwarten können. Ich möchte, dass du jetzt in dein Leben zurückkehrst.«
    Das Ungeheuer, das von Rune Besitz ergriffen hatte, betrachtete seine Beute mit kritischem Blick.
    Ihre Fassade hätte nicht perfekter sein können. Sie hatte keinen Puls, den er hätte abschätzen können, und den Ausdruck in ihren Augen würde sie ihn nicht sehen lassen. Ihr schöner Körper war so in den Kissen auf dem Bett drapiert, als würde sie für ein Gemälde posieren, ganz Kunstwerk und Komposition. Sie war kühl und kontrolliert, die Vernunft in Perfektion. Sie schien ein gänzlich anderes Wesen zu sein als das leidenschaftliche, eifrige Tigerjunge, das er nur Sekunden zuvor verlassen hatte, und warum sollte sie auch kein anderes Wesen sein, wenn dieser Augenblick für sie Tausende von Jahren zurücklag? Aber ihre Fassade war zu perfekt, und das war der fatale Fehler. Sie hätte stärker auf das reagieren müssen, was an diesem Nachmittag zwischen ihnen geschehen war, auf diese verrückte Leidenschaft, ihr Lachen und die Augenblicke wahrer Intimität. Die Erinnerung an das, was während der Trance geschehen war, hätte sich auf natürliche Weise entfalten müssen, wie es bei den ersten Malen der Fall gewesen war. Stattdessen war ihr erster Versuch, es einfach kaltblütig zu leugnen.
    Wie ein Feuersturm brauste die Wut durch seinen Körper. Er sprang quer durchs Zimmer, schleuderte sie flach auf den Rücken und warf sich auf sie. Schreck durchfuhr ihre Miene, als er sie mit seinen langen, klauenbewehrten Fingern an der Kehle packte.
    Das Ungeheuer