Der Kuss des Greifen (German Edition)
persönliches Waffenarsenal über so lange Zeit ausgebaut, dass er daran zweifelte, ob überhaupt noch etwas eine Veränderung bei ihr bewirken konnte. Dieser Gedanke half ihm endlich, seine Faszination zu dämpfen. Es gab einfach kein Ziel für seine Faszination, nichts, woran er sie auf längere Sicht festmachen konnte. Carling war brillant, wunderschön, tödlich und sogar exzentrisch, doch sie würde nicht zulassen, dass ihr irgendjemand zu nahe kam – nicht einmal ein Hund.
Na schön. Manchmal standen die Zinnen so eng und so hoch, dass oben an der Spitze nur Platz für einen war. Wenn sie es geschafft hatte, so lange in dieser Isolation zu überleben, musste sie ihre eigene Gesellschaft schätzen. Was ihn anging – er würde ihr mit Freuden helfen, wenn er konnte, und ebenso mit Freuden weiterziehen, wenn es vorbei war. Und irgendwann würde es vorbei sein. Entweder fanden sie einen Weg, ihr Leben zu retten, oder nicht. Wie Duncan schon gesagt hatte: Es starben ständig Leute. Manchmal starben auch sehr alte Wesen nach einem langen Leben.
Bei diesen Gedanken zogen sich seine Eingeweide zusammen, doch er ignorierte es. So oder so würde sein Aufenthalt auf dieser Insel nur ein merkwürdiger kleiner Schlenker auf seinem Weg sein, und er täte gut daran, das nicht zu vergessen. Sein echtes Leben wartete in New York auf ihn, wo er gute Freunde hatte und genug Leute, denen er etwas bedeutete.
Er las bis in den späten Nachmittag, dann machte er sich auf die Jagd nach etwas zu trinken. Am Brunnen in der Küche gab es zwei Ketten. An einer davon war ein leerer Eimer befestigt. Neugierig holte er die andere ein und förderte einen Metallkorb mit einem Geheimvorrat Corona zutage. Am Grund des Brunnes waren die Bierflaschen einigermaßen gekühlt worden. Ein Punkt für den durstigen Wyr.
Er schnappte sich ein paar Flaschen und versenkte den Rest wieder im Brunnen, ehe er zu seiner Lektüre zurückkehrte. Wissenschaftliche Journale waren eher Dragos’ Ding, nicht seins. Carlings Forschungen waren unbestreitbar schwere Kost. Wenn er auf eine chemische oder magische Gleichung stieß, prägte er sich die Formeln einfach nur ein, ohne zu versuchen, sie zu entschlüsseln oder zu verstehen. Aber dass es todlangweilig sein würde, sich durch Carlings Notizen zu kämpfen, wie er geglaubt hatte, stimmte nicht. Beinahe gegen seinen Willen zog ihn der Prozess, den sie durchlaufen hatte, in seinen Bann.
Es gab unterschiedliche Arten, wie Menschen und andere Lebewesen magische Angelegenheiten angingen. Im gesamten Verlauf der Geschichte war Magie von einem mystischen und manchmal geradezu religiösen Schleier umgeben gewesen, und viele von diesen mystischen oder religiösen Praktiken waren noch immer in Gebrauch. Andere praktizierten Magie als Teil einer Volkstradition, vergleichbar mit der Kräuterkunde, die in indigenen Völkern durch mündliche Überlieferungen von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Da Carling aus dem frühen Ägypten stammte, ging Rune davon aus, dass sie ihre Magie ursprünglich vom religiösen Standpunkt aus erlernt hatte. Seit dem neunzehnten Jahrhundert galt Vampyrismus überwiegend nicht mehr als mystischer Fluch, sondern als Krankheit. Dementsprechend wissenschaftlich war Carlings Ansatz zur Lösung ihres Problems.
Ihre Analysen waren nüchtern und präzise. Sie hatte eine unerschrockene Einstellung gegenüber den Symptomen im Endstadium der Krankheit und den Herausforderungen, denen sie sich würde stellen müssen. Wie die Menschen mit dem Wissen um ihre eigene Sterblichkeit leben konnten, entzog sich seinem Verständnis. Wie mochte es wohl sein, zu erfahren, dass man sterblich war? Dass die eigene Zeit begrenzt war und ein unausweichliches Ende haben würde? Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Sollte er je getötet werden, würde er staunend und verständnislos in den Tod gehen. Rune musste zugeben, dass sich unter allen Regungen, die sie in ihm hervorrief, auch eine widerwillige Bewunderung für Carlings Mut befand.
Doch jeder Weg, den sie bei ihrer Forschung einschlug, führte in eine Sackgasse. Ihre Versuche, den für die Krankheit verantwortlichen Infekt zu isolieren, schlugen fehl.
Wo lag das Problem? Welchen logischen Weg, welches Experiment hatte sie nicht bedacht? In dem eleganten Gedankengeflecht, das auf diesen Seiten so minutiös dargelegt war, konnte er nichts entdecken, und doch machte ihm etwas zu schaffen. Was störte ihn? Er hatte nicht vor, ihre Verfahren zu
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