Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss des Greifen (German Edition)

Der Kuss des Greifen (German Edition)

Titel: Der Kuss des Greifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Harrison
Vom Netzwerk:
wiederholen, weil er nicht in der Lage war, ihre aufgezeichneten Experimente zu reproduzieren. Sie war die Wissenschaftlerin, die unbestrittene Expertin auf diesem Gebiet. Für ihn war es eine Glaubenssache, dass sie bei ihren Experimenten ebenso genau und minutiös vorging wie in ihrer Handschrift. Wenn etwas nicht funktionierte, dann funktionierte es nicht.
    Also musste es etwas anderes sein, das ihn störte. War es eine der Prämissen oder eine der Schlussfolgerungen?
    Als er sich endlich eingestand, dass er eine Pause brauchte, schwand das Licht bereits. Er schob den Stuhl vom Tisch zurück und streckte den steifen Nacken und die Schultern. Er hatte noch fast hundert Seiten vor sich, aber im Moment konnte er nichts mehr aufnehmen. Frische Luft würde ihm helfen, einen klaren Kopf zu bekommen, und sein Körper brauchte Bewegung.
    Er trat hinaus und ging durch die Gärten, um das Haus herum und auf die Klippen zu. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und das Laubwerk warf lange Schatten. Die Windungen und Winkel der Schattenäste schnitten scharfe, dunkle Pfade in den Rasen.
    Er folgte einer hüfthohen Steinmauer, die den Rand der Felsen säumte, und blickte auf das Wasser hinaus. Die Sonne war ein riesiger, leuchtend orangefarbener Ball. Sie schien immer größer zu werden, je näher sie dem Horizont kam. Ebenso wie Carling war diese Insel in ihre seltsame, einsame Existenz eingehüllt. Dieses Stück Anderland vermittelte die vollkommene Illusion, dass außer der Insel, dem kobaltblauen Meer und dem endlosen Himmel nichts anderes existierte. Mit tiefen Zügen atmete er die salzige Luft ein und stellte sich vor, dort oben am Himmel zu sein und über das Wasser hinwegzufliegen, bis das Land außer Sichtweite verschwand.
    Dann nahm er eine leichte Wellenbewegung wahr, wie ein Windhauch, der sich auf seiner Haut kräuselte, und alles erzitterte und veränderte sich. Er blinzelte und sah sich suchend um, während er herauszufinden versuchte, was anders war.
    Im Westen sank noch immer die lodernde Sonne herab, ein Ikarus, der zu hoch geflogen war und nun seinen täglichen Tod starb. Das noch immer kobaltblaue Meer verdunkelte sich im schwindenden Tageslicht. Er drehte sich um. Klippen, Mauer, Garten, Schatten, großes, weitläufiges, verrücktes Gothic-Haus …
    … und hinter dem Haus, weit im Osten, waren elektrische Lichter zu sehen, wie verstreute Sterne, die Todsünden begangen hatten und vom Himmel gefallen waren. Zu einem glühenden Teppich verstreut, lagen sie auf weit entferntem, kaum erkennbarem Land.
    Wow – so sah es also von dieser Seite aus, wenn sich der Schleier zwischen diesem Land und der Bay Area lichtete. Rune spazierte ostwärts an der Mauer entlang und nahm den fremdartigen Anblick in sich auf. Die Festlandillusion war riesig und in transparenten Linien über den gesamten Osten skizziert. Durch sie hindurch war deutlich das Meer zu sehen. Der doppelte Horizont machte ihn schwindelig.
    »Wächter?« Rhoswens scharfer Ruf kam von der Küchentür auf der östlichen hinteren Seite des Hauses. »Wächter!«
    Die Vampyrin klang aufgeregt, ja drängend. Er fiel in Trab. Als er um die Ecke bog, rannte er regelrecht.
    Rhoswen stand im Türrahmen. Unter dem Arm eingeklemmt trug sie Rasputin. Als Rune näher kam, brach die Puderquaste mit Zähnen in rasendes Gekläffe aus. Da ihm die Geduld mit dem theatralischen Getue des Hundes ausgegangen war, beugte sich Rune vor, bleckte die Zähne und knurrte aus tiefster Kehle: » Benimm dich .«
    Rhoswen sah ihn groß an. Rasputin erstarrte, seine Raserei erstarb mitten im Bellen. Um die glänzende schwarze Iris herum wurde das Weiß seiner Augen sichtbar. Er sah aus wie ein erschrockenes Stofftier.
    »So ist’s besser«, murmelte Rune grimmig. Er tätschelte dem kleinen Hund den Kopf. »Guter Junge.« Dann richtete er sich auf. »Also, was ist los?«
    »Vor ein paar Minuten bin ich aufgewacht«, sagte Rhoswen. Ihr Haar war unordentlich, und auf einer Wange zeichnete sich ein Zickzack aus Kopfkissenlinien ab. »Ich habe nach Carling gesehen. Sie ist wieder in Trance gefallen – ich dachte, Sie sollten es wissen.«
    Rune wurde noch grimmiger. »Bringen Sie mich zu ihr«, sagte er.

5
    Mit schnellen Schritten ging Rhoswen durchs Haus. Rune hielt mit seinen langen Beinen mühelos Schritt.
    Die mündlichen Überlieferungen in Carlings Forschung belegten, dass diese rätselhaften Schübe an Häufigkeit und Stärke zunahmen, je näher ein Vampyr seinem Ende kam. Er wusste

Weitere Kostenlose Bücher