Der Kuss des Greifen (German Edition)
kleine Landhaus erreichten, hielt er ihr die Tür auf und ließ sie vorausgehen. »Wir sind auf einem anderen Feld, auf einem Feld, auf dem noch nie zuvor jemand war. Jetzt müssen wir herausfinden, was als Nächstes zu tun ist.«
Carling setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Wenn ein unsterblicher Wyr mit einem hochbetagten Vampyr zusammenkam, ergab das einen ganz speziellen Cocktail, der es in sich hatte.
Rune lehnte sich neben ihr an den Tisch. Natürlich. Der andere Stuhl stand zu weit entfernt auf der anderen Seite, und er schien nicht daran zu denken, ihn sich heranzuziehen. Als er ihr die Hand auf die Schulter legte, rechnete sie bereits damit. Sie hatte seine Berührung erwartet und sich darauf gefreut.
»Feld eins hat auch etwas Positives«, sagte er.
»Und das wäre?« Sie stellte fest, dass sie sich seiner Hand entgegenneigte. Ihr innerer Kampf war kurz, dann gab sie nach und legte die Wange auf seinen Handrücken.
Er drückte sie sanft. »Wenn das hier ein Verbrechen wäre, würde ich zum Anfang und zum Tatort zurückkehren. Vielleicht wurde dort Beweismaterial übersehen. Vielleicht wurden die Fakten falsch zusammengesetzt. Der Tatort muss neu untersucht werden, und wir brauchen eine zweite Meinung.« Er zog an ihrem Haarknoten, und ihre Haare lösten sich und fielen ihr über den Rücken.
Sie stieß ihm gegen den Oberschenkel. »Hör auf damit.«
»Aber ich will nicht.« Er nahm eine lange, seidige Strähne und zwirbelte sie um seine Finger.
Carling hob den Kopf und sah ihn säuerlich an. »Bist du emotional auf dem Stand eines Fünfjährigen, oder was?«
Er lächelte, dann fuhr er mit ihren Haarspitzen über seine wohlgeformten Lippen. Es war eine so offenkundig erotische Geste, dass ihr die Knie weich wurden und sie froh war, bereits zu sitzen.
Also war es in Ordnung, mit ihr zu flirten, aber nicht, sie zu küssen?
Verwirrt, verärgert und nicht wenig erregt funkelte sie ihn an und riss ihm die Haarsträhne aus der Hand. Er schmunzelte. Sie raffte ihr Haar wieder zusammen und drehte es zu einem Knoten.
»Zurück zum Anfang«, sagte sie. »Damit meinst du, zurück nach Ägypten, zum Zeitpunkt meiner Verwandlung?«
Er zuckte die Schultern. »Vielleicht auch das. Aber wir haben von den allgemeinen Zusammenhängen gesprochen, deshalb glaube ich, wir sollten die Ursprünge des Vampyrismus selbst in Betracht ziehen. Er war nicht immer Teil der Menschheitsgeschichte. Woher ist er gekommen? Wenn wir diese Frage beantworten, können wir vielleicht eine Definition aufstellen, um dem, was dir widerfährt, entgegenzuwirken.«
Sie drückte sich die Handballen vor die Augen. »Der Ursprung ist eine Legende. Vampyrismus wird auch ›der Kuss der Schlange‹ genannt, wusstest du das?«
»Ich habe davon gehört«, sagte Rune. »Ich dachte, der Ausdruck beziehe sich auf die Reißzähne, die Vampyre entwickeln und die hervortreten, wenn sie hungrig sind.«
Während sie mit geschlossenen Augen seiner vollen, tiefen Stimme lauschte, tauchten neue erotische Bilder in ihr auf, zum Beispiel, wie er in der Dunkelheit einer Wüstennacht samtene Worte auf ihre nackte Haut murmelte. Sie versteifte sich, schlug beide Handflächen so fest auf den Tisch, dass sie brannten, und zwang ihre Gedanken zurück zum Thema. »Das ist auch ein Aspekt«, sagte sie. »Aber der Name ›Kuss der Schlange‹ hat sich sehr lange Zeit gehalten.«
Er runzelte die Stirn. »Hieß es schon in deiner Jugend so?«
»Ja. Früher glaubte man, dass der Biss ein wesentlicher Bestandteil des Rituals war, um jemanden zu verwandeln. Inzwischen wissen wir, dass die Verwandlung nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit durch den Vampyrbiss selbst ausgelöst wird. Sonst würden Vampyre jeden infizieren, von dem sie trinken. Um den Erreger zu verbreiten, ist ein Blutaustausch nötig; Vampyre brauchen nicht das Blut derer zu trinken, die sie verwandeln, sie müssen nur ihr eigenes anbieten. Der Mensch kann das Vampyrblut entweder trinken oder es in einen Schnitt in der Haut fließen lassen. Wenn das Blut des Vampyrs frisch strömt und die Haut des Menschen nicht heil ist, reicht das in den meisten Fällen, um die Verwandlung auszulösen. Alles, was sonst noch hinzukommt, ist nur …« Sie hob die Hand zu einer Such-dir-was-aus-Geste.
»Persönliche Entscheidung«, sagte er. »Aberglaube. Religion. Fetisch.«
»Manchmal all das.« Zu der Zeit, als Rhoswen und Duncan verwandelt worden waren, hatte sie schon keine feste
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