Der Kuss des Jägers
schlugen
denselben Weg ein wie er. Das strenge, von klassischen, eckigen Formen und
Pfeilern beherrschte Portal stand in merkwürdigem Gegensatz zu den gotischen
Gewölben und Spitzbögen im weitgehend schmucklosen Inneren. Jean mochte die
schlichte Schönheit, die ohne goldenen Prunk und überladene Wandgemälde auskam.
Nur das Licht, das durch die bunten Fenster hereinfiel, verlieh dem Gotteshaus
seine sanften Farben.
Die Reihen der Kirchenbänke waren weitgehend leer. Direkt vor dem
Altarraum saß jemand, und auf der Höhe der beiden Beichtstühle knieten zwei
reuige Sünder, um Rosenkränze zu beten oder was auch immer die Priester ihnen
aufgetragen haben mochten. Ein älterer Mann schien noch darauf zu warten, dass
er Gelegenheit zur Beichte erhielt. Jean wusste, dass Gaillard diesen Dienst an
jedem Mittwoch- und Samstagnachmittag verrichtete. Viele Geistliche, die sich
selbst nicht näher mit Exorzismen befassen wollten, schickten ihm Menschen, die
Hilfe gegen dämonische Umtriebe suchten. Die Beichte war aus Sicht der Kirche
der geeignete Einstieg für alles Weitere, das nötig werden mochte.
Wie die meisten Touristen mied Jean den Mittelgang und schlenderte
unter den niedrigeren Gewölben der Seitenschiffe umher, wo er die vereinzelten
Heiligenstatuen an den Wänden betrachtete, bis er die Beichtstühle erreichte.
Die Sonnenbrille mochte im Innern einer Kirche seltsam anmuten, doch er stellte
fest, dass er zwar eine Seltenheit, aber zum Glück nicht der einzige Idiot war,
der sie aufbehielt.
Er blieb stehen und sah nachdenklich zwischen den Kirchgängern und
den wie übergroße, von einem Kreuz gekrönte Kleiderschränke aussehenden
Beichtstühlen hin und her, als begreife er gerade, was die Leute hier taten.
Falls ihn jemand beobachtete, sollte es so aussehen, als sei es ein spontaner
Entschluss, dass er sich dazusetzte.
Da die Kirche unter Priestermangel litt und für die wenigen
beichtwilligen Gemeindemitglieder nur einen Geistlichen aufbieten konnte,
musste er warten, bis dem älteren Herrn, der vor ihm gekommen war, die
Absolution erteilt wurde. Erst dann durfte er in das Zwielicht hinter dem
schweren, dunklen Vorhang eintreten, wo er die Sonnenbrille nun doch absetzen
musste, um überhaupt noch etwas zu sehen. Erleichtert, es bis zu Gaillard
geschafft zu haben, ließ er sich nieder. »Vergib mir, Vater, denn ich bin nicht
gekommen, um zu beichten.«
Einen Augenblick herrschte Stille. Nur die hallenden, schlurfenden
Schritte der Touristen drangen herein.
»Méric?«, flüsterte der Abbé durch das Gitter. »Großer Gott,
hoffentlich hört die pietätlose Bande nicht den Beichtstuhl ab!«
»Dann sind Sie bereits informiert?«
»Himmel, ja! Heute Morgen standen sie bei mir vor der Tür und
behaupteten, mich davor warnen zu wollen, dass Sie ausgebrochen sind und bei
mir auftauchen könnten. In diesem Fall solle ich natürlich sofort diesen
Capitaine Lacour anrufen.«
»Werden Sie das tun?« Im Grunde glaubte er nicht daran, aber konnte
er sich wirklich sicher sein? Bislang hatte er nie ernsthaft mit dem Gesetz in
Konflikt gestanden.
»Sie mögen einen anderen Eindruck haben, aber ich weiß, dass wir
letztlich auf derselben Seite stehen«, behauptete Gaillard. »Es gibt nicht
viele aufrechte Streiter gegen die Legion der Dämonen, und auch wenn ich Sie
der Sünde des Hochmuts für schuldig halte, gehören Sie zu den wenigen, die es
ernst meinen. Was Sie getan haben, war gerecht. Justitia ist blind, wie wir
wissen, aber in diesem Fall wäre es besser, sie könnte sehen, was tatsächlich
in der Waagschale liegt.«
Jean schwieg beeindruckt. Dass der Abbé ihn trotz ihrer Differenzen
so sehr schätzte, hatte er nicht erwartet.
»Wollen Sie nicht doch endlich dem Hochmut entsagen, die Beichte
ablegen und einen neuen Anfang als Diener Gottes wagen? Ich bin sicher, dass es
Wege gäbe, Sie außer Landes zu schmuggeln und in einem Orden zu verstecken, wo
Sie Ihre Priesterweihe nachholen könnten.«
War das die Lösung seiner Probleme? Bot ausgerechnet die Kirche ihm
einen gangbaren Ausweg an?
»Sie müssen es ja nicht sofort entscheiden«, sagte Gaillard leise.
»Denken Sie in Ruhe darüber nach.«
»Das werde ich, denn ich weiß Ihre Loyalität zu schätzen.«
»Wenn es nicht das war, weshalb Sie riskiert haben, zu mir zu
kommen, was dann?«
»Ich will wissen, ob es etwas Neues von Lilyth, pardon, Céline gibt.
Hat man sie gefunden?«
»Nein. Bedauerlicherweise sucht die Polizei immer noch nach
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