Der Kuss des Killers
ihren Recorder anstellte, mechanisch ein und hob, als Eve ihn über seine Rechte aufklärte, nicht einmal den Kopf.
»Haben Sie verstanden, welche Rechte und Pflichten Sie haben?«
»Ja. Hätten Sie gerne etwas zum Süßen?«
Sie blickte ungeduldig auf ihren Tee. Er roch verdächtig nach dem Gebräu, das sie auch von Dr. Mira stets aufgedrängt bekam. »Nein.«
»Ihnen habe ich ein bisschen Honig in den Tee gegeben, Officer.« Er bedachte Peabody mit einem Lächeln. »Und noch etwas… anderes. Ich nehme an, dass Sie es sehr beruhigend finden werden.«
»Riecht echt gut.« Vorsichtig nippte Peabody an ihrer Tasse. Der Tee schmeckte nach zu Hause und ebenfalls lächelnd sagte sie: »Vielen Dank.«
»Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«
Angesichts dieser abrupten Frage hob Chas ruckartig den Kopf und verschüttete einen Schluck von seinem eigenen Tee. »Am Tag seiner Verurteilung. Ich war bei der Verhandlung dabei und habe gesehen, wie sie ihn fortgeschafft haben. Sie haben ihn in Ketten gelegt, ein für alle Male hinter Gitter gebracht und dadurch die Tür zu seinem Leben abgeschlossen.«
»Was haben Sie dabei empfunden?«
»Scham. Erleichterung. Verzweiflung. Unglück. Oder vielleicht auch nur Verzweiflung. Er war mein Vater.« So wie andere Männer einen Schluck von ihrem Whiskey nahm er einen Schluck von seinem Tee. »Ich habe ihn von ganzem Herzen, aus tiefster Seele gehasst.«
»Weil er gemordet hatte?«
»Weil er mein Vater war. Ich habe meine Mutter sehr verletzt, indem ich darauf bestand, die Verhandlung zu besuchen. Aber sie war emotional derart am Ende, dass sie mich nicht daran hindern konnte zu tun, was ich wollte. Ihn hat sie auch nie an irgendetwas hindern können. Obwohl sie ihn am Schluss verließ. Sie hat mich genommen und hat ihn verlassen, was, wie ich glaube, eine Überraschung für uns alle war.«
Er starrte in seine Tasse, als dächte er gründlich über das Muster der Blätter auf dem Tassenboden nach. »Sie habe ich auch sehr lange gehasst. Hass kann einen Menschen prägen, nicht wahr, Lieutenant? Er verleiht ihm eine hässliche Gestalt. «
»Ist Ihnen das passiert?«
»Beinahe. Wir hatten kein glückliches Zuhause. Was mit einem Mann wie meinem Vater als Familienvorstand nicht weiter überrascht. Sie vermuten, dass ich sein könnte wie er.« Chas’ sinnliche Stimme blieb völlig ruhig, doch in seinen Augen kämpften die verschiedensten Gefühle.
Es waren die Augen, die man während eines Verhörs zu beobachten hatte. Die Worte bedeuteten oft nichts. »Und, sind Sie so wie er?«
»Möglicherweise sagt man nicht umsonst, jemandem liegt etwas im Blut.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber leben nicht alle Kinder, egal wie ihre Eltern sind, mit der ständigen Angst, sie hätten etwas Unerwünschtes von ihnen geerbt?«
Sie lebte stets mit dieser Angst, durfte jedoch nicht zulassen, dass sie dadurch aus dem Gleichgewicht geriet. »Wie groß war sein Einfluss auf Ihr Leben?«
»Einen größeren Einfluss kann es gar nicht geben. Sie sind eine effiziente Ermittlerin, Lieutenant. Ich bin sicher, dass Sie die Akten inzwischen längst eingesehen haben. Sie haben ihn als erschreckend charismatischen Mann erlebt. Als einen Mann, der sich als über dem Gesetz – über jedem Gesetz – stehend erachtet hat. Diese stählerne Arroganz als solche ist bereits etwas, was die Menschen bezwingt.«
»Für manche Menschen kann das Böse etwas Bezwingendes sein.«
»Ja.« Sein Lächeln war bar jeden Humors. »In Ihrem Tätigkeitsbereich ist Ihnen das bekannt. Er war kein Mann, gegen den man körperlich oder emotional hätte ankämpfen können. Er ist stark. Sehr stark.«
Chas schloss kurz die Augen, als er abermals durchlebte, wogegen er Zeit seines Lebens verzweifelt angegangen war. »Aus lauter Angst, ich könnte sein wie er, zog ich sogar in Erwägung, das kostbarste Geschenk zurückzugeben, was mir je zuteil geworden ist. Mein eigenes Leben.«
»Sie haben versucht, sich umzubringen?«
»So weit ist es nie gekommen, ich hatte es immer nur geplant. Zum ersten Mal mit zehn.« Entschlossen, sich zu beruhigen, nippte er erneut an seinem Tee. »Können Sie sich ein zehnjähriges Kind vorstellen, das darüber nachdenkt, Selbstmord zu begehen?«
Ja, das konnte sie zu gut. Sie war noch jünger gewesen, als ihr der Gedanke gekommen war. »Hat er Sie missbraucht?«
»Missbrauch ist ein so schwaches Wort, finden Sie nicht auch? Er hat mich geschlagen. Er
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