Der Kuss Des Kjer
Wappentuch gewickelt, auf dem eine weiße, mit schwarzen Flecken gezeichnete Raubkatze zum Sprung ansetzt; Mädchen und junge Burschen stützen jene, die alleine nicht mehr weiterkönnen. In den ausgezehrten Gesichtern steht Hunger und Verzweiflung.
Sie wurden aus ihrer Heimat fortgeschleppt, durch verschneite Berge hat man sie getrieben, ihnen verboten, jenen, die kraftlos am Weg zurückgeblieben sind, ein gnädiges Ende zu bereiten, ihre Leichen würdig zu bestatten. Einst waren sie Krieger und Gelehrte, frei und stolz. - Nun sind sie ein besiegtes Volk, der Willkür ihrer neuen Herren ausgeliefert, jenen Männern und Frauen, in deren seltsam alterslosen Gesichtern blauviolette Augen glitzern und deren Peitschen erbarmungslos seit Wochen auf sie niederzucken.
Ein Krieger wankt an ihr vorbei, gefesselt wie alle anderen erwachsenen Männer, doch direkt neben ihm reitet einer der Sieger, führt ihn an der Kette wie einen Hund -
für einen winzigen Moment begegnet sie seinem blaugrauen Blick, unter der Hoffnungslosigkeit sieht sie Zorn brennen. Doch ab sie ihm nachschauen will, sind er und sein Volk im Flimmern der Hitze vergangen.
Als sie sich wieder umwendet, wütet um sie her eine blutige Schlacht. Waffen klirren gegeneinander, Männer brüllen, Pferde wiehern, zu ihren Füßen liegen tote und sterbende Krieger -dennoch ist es grabesstill. Und dazwischen streifen Seelenfresser wie Schatten umher, laben sich an den Körpern, in denen das Leben gerade erlischt. Sie sieht das Wappen der schwarz gefleckten Raubkatze, die zum Sprung ansetzt, auf der Brust eines Kriegers, der auf einem mächtigen Kriegsross mit gelben Augen sitzt und der eben einem Mann das Schwert in die Brust stößt. Der hält das Banner eines blau gefiederten Reihers auch dann noch umklammert, als er schon sterbend zu Boden sinkt. Sein blaugrauer Blick findet ihren - Augen, die sie kennt, sehen sie an -, die höhnische Kalte darin lässt sie schaudern. Und über allem liegt ein dunkler Schatten, der die Seelen der Krieger vergiftet und sie zum Hassen zwingt.
Einmal mehr stieg Ired mit einem zornigen Wiehern auf die Hinterhand, schritt rückwärts und schnaubte. Einmal mehr nutzten weder Sporen noch Kandare etwas.
Mordan fluchte. Schon seit einiger Zeit ging das so, und nur wenn er der Stute ihren Willen ließ, war sie von der Stelle zu bewegen. Aber damit musste jetzt endgültig Schluss sein. Ired stemmte sich gegen den Zügel, als er sie nach rechts wenden wollte, stieg erneut halb auf die Hinterhand, kam mit einem Buckeln wieder auf alle Viere. Mordan trieb ihr die Sporen in die Seiten und riss grob an der Kandare. Die Stute keilte aus, stieg noch einmal mit einem wütenden Wiehern hoch, nur um sich dann schnaubend im Kreis zu drehen. Verdammter Gaul! Wenn das hier vorbei ist, freut sich der Abdecker über dein Fell! Zum wiederholten Mal wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht und zog das Tuch um Mund und Nase zurecht. Wenn er die Heilerin nicht bald fand ... Er brüllte ihren Namen und erhielt wie schon zuvor nur das höhnische Heulen des Windes zur Antwort. Unter ihm tanzte Ired wie ein Sandgeist, verbiss sich unvermittelt auf die Kandare, nahm ihm so die Gewalt über die Zügel und galoppierte aus dem Stand los.
Seelenverfluchtes Mistvieh! Ich weiß, dass Haffren dich mir nur deshalb geschenkt hat, damit du mich umbringst, aber musst du das ausgerechnet jetzt tun?
Er duckte sich über den Hals der Stute, schlang die Zügel um die Hände und hoffte, dass Ired irgendwann einsehen würde, dass sie ihn so nicht loswurde - und das, bevor der Sturm endgültig losbrach.
Um sie her verblasst alles und sie steht allein auf einer gleißend weißen Ebene.
Salzig schmeckender Wind streicht durch ihr Haar, streichelt ihre Arme und schmiegt ihr Gewand an ihren Körper. In der Hitze kommen aus dem Süden und dem Norden schweigend Gestalten aus der Ferne auf sie zu. Die einen führen das Banner des Reihers, die anderen das der weißen Raubkatze. Von Osten nähert sich die einsame Silhouette einer Frau. Augen in der Farbe alten Goldes glänzen in einem schlanken Gesicht, eine Böe spielt mit eisbleichem Haar, die Haut ihrer bloßen Arme schimmert in allen Tönen von Weiß und Silber - und dann geht die Frau durch sie hindurch, und sie ist sie: Aslajin, die Verstoßene, Tochter einer Seelenhexe; sie spürt ihren Schmerz, ihre Angst, ihre Hoffnung. Die Geister von Wind und Salz flüstern zu ihr, sprechen von dem, was war, und dem, was vielleicht
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