Der Kuss Des Kjer
sie völlig reglos. Er hatte erwartet, dass sie um sich schlagen würde, sich irgendwie gegen ihn wehren würde - nichts. Auf ihren Wangen sah er Tränen glänzen. Sie schrie weiter. Ein Laut voller Grauen und Verzweiflung - und voller Schmerz.
Zwei klatschende Ohrfeigen trafen ihr Gesicht. Der Schrei verstummte, sie riss die Augen weiter auf, blinzelte zweimal, dreimal, starrte ihn an, wie jemand, der gerade aus einem Traum erwacht, und schnappte nach Luft. Sie hatte ihn erkannt. Dann sah sie sich verwirrt um. Ihr Blick kehrte zu ihm zurück, sie wehrte sich nicht, als er ihr den Wasserschlauch an die Lippen setzte und sie zum Trinken nötigte. Schließlich zog er sie vom Boden hoch - sie wirkte noch immer wie betäubt.
»Ich wollte nicht fortlaufen! « Die Worte waren nur ein Stammeln. Ihre Stimme war heiser vom Schreien.
Mordan zog die Kapuze des Umhangs tief in ihr Gesicht. »Ausnahmsweise glaube ich Euch, Heilerin. - Rasch! Kommt! Ein Salzsturm zieht auf. Wir müssen Cavallin erreichen, ehe es zu spät ist. «
Er schob sie vorwärts, das Salz knackte unheildrohend unter ihnen, unvermittelt blieb Lijanas mit dem Fuß an etwas hängen, wäre gestürzt, hätte sein Arm um ihre Schultern es nicht verhindert. Ein Windstoß peitschte über die Ebene, riss an dem Mantel, vertrieb den Salznebel und offenbarte, was unter ihm verborgen gewesen war. Verkrümmt am Boden liegende Körper, Hunderte -Männer, Pferde. Erstarrte Hände umklammerten noch, was das Salz von Schwertern und Schilden übrig gelassen hatte. Das weiß verkrustete Leder von Harnischen bedeckte eingetrocknete Rippen, unter den Überresten von altertümlichen Helmen grinsten vom Salz mumifizierte Gesichter. Voller Entsetzen drängte Lijanas sich enger an Mordan, der selbst überrascht keuchte und zurückwich. Das Salz krachte unter seinem Fuß, gab nach. Kaum zwei Schritt von ihnen bewegte sich der Boden, mit knirschendem Bersten brach ein weiterer Körper durch die Kruste. Die Heilerin stieß einen erschrockenen Schrei aus, klammerte sich an ihn. Fest packte er sie bei den Schultern, schob sie ein Stück von sich weg, ehe ihr gemeinsames Gewicht zu viel für das Salz werden konnte.
»Ruhig! Das sind Salzleichen! Sie tun Euch nichts! « Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme gepresst klang. Salzleichen, ja! Aber so viele? Hat hier irgendwann einmal eine Schlacht stattgefunden? Was ist geschehen? Hat man die Toten zurückgelassen oder hat sich das Salz unter den noch lebenden Kriegern aufgetan und sie einfach verschlungen? Ein Schaudern kroch zwischen seinen Schultern entlang. Und warum gibt das Salz sie ausgerechnet jetzt frei? Er spürte die Bewegung direkt neben seinem Fuß und wich weiter zurück. Ein Schädel bohrte sich durch das Weiß, Reißzähne schimmerten, eingesunkene Augenhöhlen glotzten zu ihm empor.
Mit einem Zischen griff er die Hand der Heilerin, zog sie hinter sich her, zwischen den Körpern hindurch, zu Ired hin, die ihnen unruhig wiehernd entgegensah. Risse fraßen sich vor ihren Füßen durch das Salz, unvermittelt ragte hier eine Hand daraus hervor, dort eine Schulter, da ein Kopf ...
Dann hatten sie das Kriegsross erreicht. Die gelben Augen rollten vor Entsetzen, dass man das Weiße erkennen konnte. Hastig bot Mordan der Heilerin die verschränkten Hände als Tritt. »Steigt auf. Beeilt Euch! Wir müssen hier weg! «
»Wo sind die anderen?«
»Vorausgeritten - hoffe ich! « Er saß auf und im gleichen Augenblick brach das Salz unter ihnen. Ireds Hufe gruben sich in den knirschenden Boden, Mordan warf sich nach vorne, drückte die Heilerin über den Hals der Stute, ein verzweifelter Sprung, ein schmerzerfülltes Wiehern, dann fand das Ashentai Halt und galoppierte davon.
Hinter ihnen barst das Salz mit ohrenbetäuben, dem Krachen und verschlang erneut die Mumien der Krieger, die es eben erst freigegeben hatte.
***
Sonnenlicht flutete in den Raum, ließ die Muster der kostbaren Wandteppiche leuchten und strich über Regale, angefüllt mit glänzenden Phiolen, wohlverkorkten Flaschen und wachsversiegelten Tiegeln, deren geheimnisvolle Inhalte Tod und Leben bedeuten mochten. In einem gläsernen Gefängnis hockte eine haarige Spinne, die ein paar Beine zu viel zu haben schien, daneben zischte ein schwarzer Skorpion drohend und hob den Stachel. Achtlos warf der hochgewachsene Krieger seinen mit Schneefell gefütterten Mantel über einen Stuhl, nahm gelangweilt einen Menschenschädel von einem Bord und drehte ihn im
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