Der Kuss Des Kjer
Überfluss hatte er die Orientierung und jegliches Zeitgefühl verloren. Ein paar Mal hatte er geglaubt, in den wehenden Schleiern die Marksteine der Handelsstraße nach Cavallin zu sehen, doch dann hatte das Salz ihm wieder vollständig die Sicht genommen und er war sich nicht mehr sicher gewesen, ob ihm sein Verstand nicht nur etwas vorgegaukelt hatte - so hatte er Ired weiter die Richtung bestimmen lassen.
Das Salz hatte seine Lider verklebt. Er sah nur noch fahle Schlieren. Seine Zunge fühlte sich wie ein schimmeliger Stofffetzen an. Durst brannte in seinen Sinnen, verwirrte sein Denken, dass er Jerdts Hohngelächter hörte, Arkells Stimme, die ihm befahl, für einen Schluck Wasser wie ein Hund zu kriechen, und immer wieder Jarats Worte: » Blut verbindet sich mit Blut! Von heute an ist dieser hier mein Sohn! « Beim nächsten Schritt stolperte er über eine Unebenheit, taumelte gegen die Pferdeschulter, fing sich wieder und fasste hastig fester zu, als die Handgelenke der Heilerin ihm zu entgleiten drohten. Er hatte ihre Arme über seine Schultern nach vorne gezogen, ihr Kopf lag an seinem Hals und ihr mühsamer Atem streifte seine versengte Haut, während ihre Beine schlaff herabhingen und zuweilen gegen seine Stiefel schlugen . Noch immer war sie nicht zu sich gekommen.
Eine Böe erfasste ihn und trieb ihn einige wankende Schritte weiter, bis er unvermittelt mit dem Knie an einen Felsen stieß, stolperte und sein Ellbogen über Stein schrammte, als er stürzte. Einen Moment hockte er im Salz, die Hand gegen die raue Fels, wand gepresst, den leblosen Körper der Heilerin neben sich und konnte nicht glauben, was seine tastenden Finger ihm sagten sie hatten die Salzzinnen erreicht. Doch zum Aufatmen war es zu früh. Sie mussten die Tore von Cavallin finden, sonst würde der Sturm sie noch immer binnen weniger Stunden töten. Er wischte über sein salzverkrustetes Lid, blinzelte gegen den peitschenden Wind -
ebenso gut hätte er mit seinem verletzten Auge in helles Licht schauen können; es war, als gieße ihm jemand giftige Säure zwischen die Lider. Mit einem gequälten Zischen verbarg er einen Herzschlag lang sein Gesicht zum unzähligsten Mal im Ärmel seiner Tunika und kämpfte mit dem Schmerz, ehe er die Heilerin wieder auf seinen Rücken zog, sich auf die Füße mühte und vorwärtswankte, eine Hand an den rauen Felsen der Salzzinnen.
Als aus dem scharfkantigen Stein unter seinen Fingern dann endlich Holz wurde, hatte er die Hoffnung bereits aufgegeben. Inzwischen wütete der Sturm mit mörderischer Gewalt und nahm ihm die Luft zum Atmen. Das Salz hatte die Sonne endgültig verschlungen, alles in trübe Dämmerung getaucht. Es war pure Sturheit, die ihn auf den Beinen hielt und noch immer einen Fuß vor den anderen setzen ließ. Und dann war da plötzlich glatt geschliffenes Holz unter seiner Hand! Die Tore von Cavallin! Endlich! Er sank auf die Knie und ließ die Heilerin neben sich auf den Boden gleiten. Mit der Erleichterung kam der Wunsch, sich der Erschöpfung zu ergeben, während er mit einer letzten Kraftanstrengung gegen die Tore schlug. Bis auf das Heulen des Windes blieb es still. Unbeholfen zog er den Dolch aus seinem Gürtel, hieb mit dem Knauf gegen das Holz - wieder - wieder - wieder - wieder. Nichts rührte sich.
Erneut schlug er gegen die Tore - keine Antwort. Seine Finger öffneten sich gegen seinen Willen, die Waffe fiel zu Boden, seine Hand rutschte am Holz entlang abwärts, ein letzter, kraftloser Schlag. - Nichts! In seinem Schrei mischte sich Wut mit Verzweiflung, der Sturm verschluckte ihn mit höhnischem Gelächter. Schließlich ließ er sich mit der Schulter gegen das Tor sinken, zog die Heilerin in seine Arme und barg ihren Kopf an seiner Brust.
***
lfea hob ihren quengelnden Sohn höher auf ihre Hüfte und mühte sich weiter ab, den schweren Eimer aus der Tiefe des Brunnenhauses heraufzuziehen. Das Seil entglitt ihr, als ihr ungeborenes Kind sich heftig strampelnd regte. Der Eimer fiel mit einem Klatschen ins Wasser zurück und lfea schloss für einen kurzen Moment die Augen.
»Soll ich dir helfen, Schwesterlein?« Sie konnte das Grinsen ihres Bruders geradezu sehen. Ihr Sohn patschte krähend seine Händchen zusammen und wollte auf den Arm seines Onkels. Sie fasste fester zu und hob die Lider. »Ich wäre dir ewig dankbar, Ismar.« Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. Wie schneidig er doch in der Uniform der Torwachen von Cavallin aussah, als er da im Türbogen des
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