DER KUSS DES MAGIERS
Ohnmacht gefallen. Wieso glaubst du, ich könnte den Rest nicht auch verkraften?“
Schweigend blickte er aufs Meer hinaus. „Einige der Dinge passen einfach nicht in dein Weltbild. Dein Unterbewusstsein hat sie offenbar gut vergraben, um dich davor zu schützen. Wenn du sie von mir erfährst, wirst du mir nicht glauben und mich trotzdem dafür hassen, dass ich sie ausspreche. Das will ich nicht“, fügte er leise hinzu.
Sina blieb stehen und wandte sich ihm zu. „Du meinst die Dinge, die mit meinem Vater zu tun haben?“, fragte sie tonlos.
Und als Les schwieg, fuhr sie fort: „Was hat er getan?“
Les rührte sich nicht, auch nicht, als sie begann, mit den Fäusten auf seine Brust zu trommeln. „Was? Was hat er getan?“
Und dann war es wieder, als ob ein Vorhang zurückgeschwungen wäre. Nur dass Sina auf der Leinwand sich selbst sah.
Der Tag vor meinem vierten Geburtstag. Ich bin mit Papa in der Stadt, um Sachen für meine Party einzukaufen, Mom bereitet zu Hause alles vor. Zum Schluss gehen wir in den Park, zum Tretbootfahren. Wir fahren zur Pirateninsel, Schätze suchen.
Aber diesmal ist etwas anders. Als wir auf der Insel ankommen, will Papa gleich wieder umdrehen. Und ich verstehe nicht, wieso, bin ganz enttäuscht. Doch dann sehe ich jemanden am Strand stehen, und Papa sagt mir, dass er mich lieb hat und ich keine Angst haben soll.
Ich habe keine Angst, Papa ist ja bei mir. Aber als wir anlegen, aussteigen, Papa meine Hand nimmt und wir auf den Mann zugehen, finde ich es schon ein bisschen gruselig. Der Mann sieht komisch aus, er hat ganz schwarze Haare und Augen und einen Bart. Papa wird immer langsamer.
Und dann stehen wir vor ihm. Der Bärtige beugt sich zu mir hinunter. Papa drängt sich zwischen uns und sagt, es wäre noch zu früh. Der Bärtige meint, im Gegenteil, es wäre allerhöchste Zeit, und wir sollten mitkommen.
Wir gehen zu der Lichtung mit dem Felsblock, wo der Bärtige mich hochhebt und auf den Stein setzt.
Dann fängt dieses komische Summen an. Das Licht wird ganz anders, zäh und klebrig, alles wirft doppelte Schatten.
„Ich kann nicht“, stöhnt Papa. „Ich kann nicht, und ich will nicht.“
„So sind die Regeln“, sagt der Bärtige. „Das hast du immer gewusst. Dein Kind ist auch sein Kind, und es wird Zeit, dass er sie in Besitz nimmt.“
Und dann sehe ich einen Schatten, ein Ding auf dem Felsblock, nur dass es viel echter ist als ein Schatten und auch nicht nur flach und schwarz. Es sieht ganz komisch aus, es ist klein, aber es hat ganz lange Arme und Beine, einen kahlen Kopf und eine platte Nase. Irgendetwas stimmt mit seinem Mund nicht …
Der Bärtige gibt Papa ein Messer. „Tu es. Lass ihn endlich einziehen!“
„Nein.“
Das Summen wird lauter, das Licht noch bedrohlicher.
Papa schüttelt den Kopf.
Ich will aufstehen, wegrennen, schreien, aber ich kann mich nicht bewegen, und meine Füße baumeln auf dem großen Fels weit über dem Boden. Sonst fängt Papa mich auf, wenn ich runterspringe, aber er schaut nicht zu mir, nur zu dem Bärtigen.
Er lässt das Messer fallen, und der Bärtige flucht, hebt es auf, hält mit einer blitzschnellen Bewegung Papas Arm fest und zieht die Klinge darüber. Ein blutiger Schnitt klafft, und jetzt schreie ich wirklich.
Der Bärtige packt mich und sieht mich so drohend an, dass ich keine Luft bekomme und nicht mehr schreien kann. Dann hebt er das Messer, dreht meinen Arm um und will mich auch schneiden. Aber ich wehre mich wie wild, versuche, den Arm wegzuziehen, und das Messer schneidet in meine Handfläche. Nicht tief, aber es blutet.
„Tu es“, brüllt der Bärtige meinen Vater an, der nichts tut, sich nicht rührt.
Dann scheint es, als ob sein Arm sich gegen seinen Willen bewegt, der Arm mit dem Schnitt, mit dem Blut kommt mir immer näher. Ich weiche zurück, so weit ich kann, doch hinter mir ist der Fels bald zu Ende.
„Papa …“, rufe ich schluchzend. „Papa …“
Und dann fegt etwas auf die Lichtung wie ein Wirbelwind.
„Halt! Aufhören! Ich nehme ihn“, höre ich nur. Dann steht Les neben dem Fels, fasst mich um die Taille, hebt mich hinunter, stellt mich auf den Boden und raunt mir zu: „Lauf zum Boot zurück und warte dort. Es dauert nicht lange, wir kommen gleich.“
Seine wunderbare Stimme, seine goldenen Augen beruhigen mich sofort, und ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und schiebt mich in Richtung des Weges, der zum Boot führt.
„Hör auf
Weitere Kostenlose Bücher