Der Kuss des Meeres
Ich bewege den Kopf von einer Seite zur anderen, nach oben und nach unten, rundherum. Nichts. Kein Schwindel, kein Blackout, kein Pochen. Ein Blitz geistert durch den Raum, und als er wieder verschwindet, folgt mein Blick ihm zurück aufs Meer. In der Spiegelung des Fensters erkenne ich eine Gestalt hinter mir. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem diese beeindruckende Silhouette gehört– oder wer meinen ganzen Körper mit Gänsehaut überzieht.
» Wie fühlst du dich?«, fragt er.
» Besser«, sage ich zu seinem Spiegelbild.
Er hüpft über die Rückenlehne der Couch, packt mein Kinn, dreht meinen Kopf von einer Seite zur anderen, dann nach oben und nach unten und rundherum und beobachtet meine Reaktion. » Das habe ich auch gerade gemacht«, erkläre ich ihm. » Nichts.«
Er nickt und lässt mich los. » Rach… ähm meine Mom hat deine Mom angerufen und ihr gesagt, was passiert ist. Daraufhin hat deine Mom euren Arzt angerufen. Er meint, das sei ziemlich normal, aber du solltest dich ein paar Tage lang ausruhen. Meine Mom hat darauf bestanden, dass du die Nacht über hierbleibst, damit niemand bei diesem Wetter fahren muss.«
» Und meine Mutter war damit einverstanden? «
Selbst in der Dunkelheit entgeht mir sein unterdrücktes Grinsen nicht. » Meine Mom kann ziemlich überzeugend sein«, erwidert er. » Am Ende des Gesprächs hat deine Mom sogar vorgeschlagen, dass wir morgen beide zu Hause bleiben sollen und hier abhängen, damit du dich entspannen kannst– natürlich nur, weil meine Mom zu Hause sein wird und uns im Auge behalten kann. Deine Mom sagte, du würdest nicht zu Hause bleiben, wenn ich in die Schule gehe.«
Ein Blitz beleuchtet meine erröteten Wangen. » Weil wir beide ihr erzählt haben, dass wir miteinander gehen.«
Er nickt. » Sie sagte, du hättest heute noch zu Hause bleiben sollen, hättest aber einen Anfall bekommen, weil du trotzdem gehen wolltest. Ehrlich, mir war nicht klar, dass du so besessen bist von… autsch!«
Ich versuche, ihn noch mal zu kneifen, aber er fängt mein Handgelenk ab und zieht mich über seinen Schoß, wie ein Kind, das eine Tracht Prügel bekommt. » Ich wollte sagen ›von Geschichte‹.« Er lacht.
» Nein, wolltest du nicht. Lass mich hoch.«
» Gleich.« Er tut es aber nicht.
» Galen, du lässt mich auf der Stelle hoch…«
» Tut mir leid, bin noch nicht so weit.«
Ich keuche. » Oh nein! Der Raum dreht sich wieder.« Ich halte angespannt inne.
Und dann dreht sich der Raum tatsächlich, als Galen mich hochreißt und wieder mein Kinn packt. Der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht erfüllt mich mit schwachen Gewissensbissen– schwach genug, um den Mund jetzt nicht zu halten. » Funktioniert jedes Mal«, sage ich und schenke ihm mein schönstes Ha-ha-reingefallen -Grinsen.
Ein Kichern von der Tür unterbricht das Donnerwetter, das sich über mir zusammenbraut. Ich habe Galen noch nie fluchen gehört, aber seine finstere Miene lässt darauf schließen, dass ihm das F-Wort auf der Zunge liegt. Wir drehen uns beide um und erblicken Toraf, der uns mit verschränkten Armen beobachtet. Auch er hat ein Ha-ha-reingefallen -Grinsen im Gesicht. » Das Abendessen ist fertig, Kinder«, sagt er.
Yep, ich mag Toraf. Definitiv. Galen verdreht die Augen und zieht mich von seinem Schoß. Er springt auf die Beine und lässt mich einfach stehen, während ich in der Spiegelung des Fensters beobachte, wie er Toraf die Faust in den Magen rammt, als er an ihm vorbeigeht. Toraf ächzt, was aber nichts an dem Grinsen auf seinem Gesicht ändert. Mit einem Nicken bedeutet er mir, ihnen zu folgen.
Während wir durch die Räume gehen, versuche ich, die luxuriöse, kultivierte Atmosphäre zu genießen, die Marmorböden und die grässlichen Gemälde, aber mein Magen macht Geräusche wie zur Fütterungszeit im Hundezwinger.
» Dein Magen macht Paarungsrufe«, flüstert Toraf mir zu, als wir die Küche betreten. Mir schießt die Röte ins Gesicht, was Toraf lautes Gelächter entlockt.
Rayna sitzt im Schneidersitz auf einem Barhocker an der Theke und versucht, sich die Zehennägel mit den sechs verschiedenen Farben zu lackieren, die vor ihr aufgereiht sind. Wenn sie nicht will, dass sie hinterher wie M&M’s aussehen, hat sie noch einen langen Weg vor sich. Hmmm… M&M’s…
» Emma, ich würde dir gerne meine Mutter vorstellen«, sagt Galen. Er legt seiner Mutter die Hand auf den Rücken und schiebt sie vom Herd weg, wo sie in einem Topf rührt, der
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