Der Kuss des Meeres
unbewegter Miene. Ich habe das Gefühl, dass er an solche Ausbrüche gewöhnt ist. » Du lenkst mit ihr nur von deinen wahren Verpflichtungen ab, Galen«, zischt sie. » Und jetzt hast du uns alle in Gefahr gebracht. Wegen ihr .«
» Du kanntest diese Gefahr, bevor du hergekommen bist, Rayna. Wenn du dich bloßgestellt fühlst, geh«, entgegnet Galen kühl.
Verpflichtungen? Bloßgestellt? Irgendwie warte ich darauf, dass irgendjemand zugibt, dass sie Teil eines Violette-Augen-Kultes sind und dass ich die Initiation vermasselt habe. » Ich glaube, ich verstehe das nicht ganz«, murmele ich.
» Oh, tja, das ist echt schockierend, was?«, bemerkt Rayna. Dann dreht sie sich wieder zu Galen um und fügt hinzu: » Sieht aus, als würdest du immer versuchen, mich wegzuschicken.«
» Sieht aus, als würdest du niemals hören«, gibt Galen zurück.
» Ich bin deine Schwester. Mein Platz ist an deiner Seite. Was bedeutet sie schon für uns?« Sie weist mit dem Kopf auf mich.
Ich rücke ein wenig vom Tisch ab, um Abstand zwischen Galens Schwester und mich zu bringen. Die Energie im Raum wirft schon längst keine Funken mehr, sondern hat sich in ein ausgewachsenes Inferno verwandelt.
» Alles okay?«, fragt er mich. » Setz dich lieber wieder hin.«
Rayna kommt um die Ecke des Tisches und umklammert die Rückenlehne eines Stuhls. » Warum bist du immer noch hier, Galen? Sie ist doch eindeutig bloß ein armseliger, kleiner Mensch, der nicht mal seine eigene Freundin retten konnte. Und wir wissen doch, wie mordgierig sie sind und dass sie sich grundlos gegenseitig töten. Vielleicht hat sie sie ja mit Absicht sterben lassen.«
Ich stoße mich von der Theke ab. » Was hast du gerade gesagt?«
» Rayna!«, brüllt Toraf. » GENUG !«
» Emma, sie weiß nicht, was sie sagt«, sagt Galen und zieht an meinem Handgelenk, damit ich wieder zu ihm komme.
Rayna lächelt gehässig, als sie sagt: » Oh doch, das weiß ich, Emma. Ich weiß genau, wovon ich rede. Du. Hast. Chloe. Getötet.«
Ich war noch nie zuvor in einen Kampf verwickelt. Technisch gesehen wird das hier auch nicht als Kampf durchgehen– es wird Mord sein. Zum ersten Mal in meinem Leben gewinnt Präzision die Oberhand über meine Ungeschicktheit. Selbst mit nackten Füßen bin ich so schnell bei ihr, dass ihr die Luft wegbleibt. Ich ramme meine Schulter in ihre Eingeweide, hebe sie an den Beinen hoch und klatsche sie an die nächste Wand. Sie ist muskulöser als ich. Vor ungefähr zwei Sekunden dachte sie auch noch, sie sei wütender. Aber Rayna weiß nicht, was jenseits von stinksauer wirklich bedeutet– und ich bin drauf und dran, es ihr beizubringen.
Bei dem Aufprall beißt sie die Zähne zusammen und knirscht: » Siehst du, Galen? Jetzt kommt ihre wahre Natur zum Vorschein!«
Ich schlage sie so heftig, dass meine Faust und ihr Gesicht beide gebrochen sein müssten. Aber beide funktionieren immer noch prächtig, als sie mir ihren Kopf direkt zwischen die Augen rammt und ich ihr einen Faustschlag aufs Ohr verpasse. Irgendwie prügeln wir uns gegenseitig ins Wohnzimmer. Ich nehme undeutlich wahr, dass Galen und Toraf raufen. Galens Mom schreit, als sei ihr das Bein amputiert worden.
Ich habe die Gastfreundschaft hier überstrapaziert. Ich werde niemals wieder eingeladen werden. Meine Chancen bei Galen sind auf null gesunken, als ich seine Schwester angegriffen habe. Und sie geschlagen habe. Und trotzdem trete ich sie so heftig, dass sie fast kotzen muss.
Als sie dann auch noch sagt: » Ist es das, was du mit Chloe gemacht hast, als du sie unter Wasser hattest?«, habe ich nichts mehr zu verlieren. Also ramme ich ihr die Schulter in den Brustkorb, hieve sie vom Boden hoch und katapultiere uns beide durch die Glasfront nach draußen in den Sturm.
10
Es dauert fünf Sekunden, bis sich die beiden in der Flut aus Glassplittern rühren. Galen schluckt, damit sein Herz wieder an den richtigen Platz rutscht. Als Emma sich bewegt– und zu knurren anfängt, als sich Rayna aufrichtet–, ist er wieder in der Lage zu atmen. Rayna schirmt sich ab, als Emma ihr die Beine wegtritt. Und es fängt von vorne an.
Toraf schlurft neben ihm ins Wohnzimmer und verschränkt die Arme vor der Brust. » Rachel ist weg«, seufzt er. » Sie sagt, sie kommt nie mehr zurück.«
Galen nickt. » Das sagt sie immer. Aber für heute Abend ist es wahrscheinlich besser so.« Sie zucken beide zusammen, als Rayna den Fußballen auf Emmas Rücken stemmt und sie quer durch das Meer von
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