Der Kuss des Meeres
umgebracht hat?«
» Unter anderem, ja.«
» Es ist boshaft, und das weißt du genau.«
» Zugegeben, sie hätte taktvoller sein können. Aber sie hat bloß versucht, Emma dazu anzustacheln, die Wahrheit zu sagen…« Toraf bleibt jäh stehen, als sie ein Spritzen hören. Der dunkle Schopf taucht als Erstes auf, dann der helle. Die Mädchen ringen um Halt und stemmen sich im knietiefen Wasser gegen die hüfthohen Wellen.
Mehr als diesen Ausdruck auf Raynas Gesicht braucht Galen gar nicht zu sehen. Er schüttelt den Kopf. » Okay, dann mal los.«
» Du bist eine von uns!«, kreischt Rayna und deutet auf Emma. Aber Emma beachtet den Zeigefinger, der nur Zentimeter vor ihrem Augapfel schwebt, gar nicht. Sie starrt ins Wasser, als würde sie etwas suchen.
Toraf steckt den großen Zeh hinein und nickt Galen zu. Er kann Emma spüren.
Emma steht wie erstarrt da, während Welle um Welle in sie hineinklatscht. Sie schaut sich am Strand um, blickt zum Haus hinüber, dann hinauf in den Sturm. Sie schlingt die Arme um sich und richtet einen entgeisterten Blick auf Rayna, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Als wüsste sie nicht, wo sie ist oder wie sie dorthin gekommen ist.
Raynas Lippen zittern. Sie schlingt genau wie Emma die Arme um sich. » Aber… aber wenn du eine von uns bist… bedeutet das, dass du sie wirklich hättest retten können …« Rayna schüttelt den Kopf. » Du hast es nicht einmal versucht! Du hast sie sterben lassen!«
» Ich habe es versucht!«, schluchzt Emma. » Er wollte nicht loslassen. Für ihn war es nur ein Spiel! Er hatte nicht mal Hunger!«
Galen schnappt nach Luft. Sie hat recht. Die Art, wie sich der Hai gewunden und gedreht hat, wie er gezogen hat. Die Art, wie er sich in Chloes Bein verbissen hat, statt sich noch mehr Fleisch zu holen. Der Hai hat versucht, mit Emma zu spielen. Chloe war einfach ein Mittel zum Zweck. Wie ein Seegrasseil beim Tauziehen. Hat Emma das schon damals begriffen? Hat sie die Absicht des Hais sofort oder erst später erkannt? Er schüttelt den Kopf. Diese Fragen werden warten müssen– Emma zittert wie Algen in der Hochflut.
Er watet ins Wasser und schlingt die Arme um sie. » Alles gut, Emma. Ich hab dich.«
» Was passiert mit mir? Ist es mein Kopf?«
Er presst ihre Wange an seine Brust. » Scht. Beruhig dich, Emma. Es ist nicht dein Kopf. Es ist dein Geheimnis. Ich kenne es und du nicht.« Er streicht über ihr klatschnasses Haar und bettet das Kinn auf ihren Kopf. Als Raynas Mund aufklappt, schießt er ihr einen warnenden Blick zu. Ihre Augen weiten sich. » Was tust du da?«, formt sie mit den Lippen. Er verdreht die Augen. Ich wünschte, ich wüsste es.
» Welches Geheimnis? Ich verstehe das nicht. Nichts von alledem.« Emma wimmert in der Geborgenheit seiner Arme. Ihr ganzer Körper erzittert unter der Wucht ihres Schluchzens.
» Emma«, murmelt er in ihr Haar. » Es tut mir leid. Du musst eine Menge verkraften. Und das ist gerade erst der Anfang. Aber ich will dir auch den Rest zeigen. Darf ich?« Er streichelt mit dem Handrücken ihre Wange. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hat, nickt sie. Er dreht sie herum, legt die Arme um ihre Taille und bewegt sie von Rayna weg.
Tagelang hat er über diesen Moment nachgedacht, hat versucht vorherzusehen, wie Emma reagieren wird, wie er damit umgehen sollte. Inzwischen ist er sich sicher, dass sie angewidert sein wird, und das ist schmerzhafter, als er jemals gedacht hätte. Sie sagte, sie würde ihn nicht länger abweisen, aber das war, bevor ihm eine Flosse gewachsen ist. Vielleicht hält er sie jetzt zum letzten Mal, vielleicht spürt er jetzt zum letzten Mal das Feuer ihrer Berührung. Er will den Moment auskosten, will den Moment zu so viel mehr machen, aber Rayna sieht ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. Er seufzt und drückt Emma noch fester an sich. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
» Halt den Atem an«, flüstert er ihr ins Ohr.
» Ich soll den Atem anhalten?«, keucht sie und späht hinunter ins Wasser.
Er nickt an ihrer Wange, fühlt ihre seidige, im Sturm beinahe schillernde Haut wie eine Kostbarkeit. » Nur für den Moment. Nicht die ganze Zeit. Hältst du ihn an?«
Sie nickt.
Er wirft sich zurück– hinab in die Fluten.
11
Das gibt es gar nicht. Er hat seine Arme um meine Taille geschlungen, sodass ich sein Gesicht nicht sehen kann, während er mich tiefer und tiefer hinunterzieht. Wir schießen so schnell durch das Wasser, dass ich gar nicht in der Lage
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