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Der Kuss des Meeres

Der Kuss des Meeres

Titel: Der Kuss des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Banks
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Genau wie mein Liebesleben.
    Ich wate gegen den Wellengang an und zwinge mich unter den Strom der Brandung. Ich halte den Atem an und lasse mich treiben, dann drücke ich den Startknopf auf Dads alter Stoppuhr. Und entdecke noch einen Grund, das Verrinnen der Zeit zu hassen: Es ist langweilig. Um nicht auf die Anzeige zu starren, während sich die Minuten dahinschleppen, sage ich das Alphabet auf. Dann zähle ich alle Zahlen und Fakten rund um die Titanic auf, wie es jeder besessene Mensch tun würde. Ein paar Krabben lauschen gebannt, als ich die Anzahl der Rettungsboote mit der Anzahl der Passagiere vergleiche und mich die Wellen immer weiter zurück Richtung Ufer spülen.
    Nach fünfzehn Minuten fühlt sich meine Lunge langsam wie zugeschnürt an. Nach siebzehn Minuten wie ein Gummiband, das aufs Äußerste gedehnt wird. Nach zwanzig Minuten entwickelt sich mein kleines Experiment zum ausgewachsenen Notfall. Ich tauche auf und halte die Uhr an.
    Zwanzig Minuten, vierzehn Sekunden. Nicht schlecht für einen Menschen– der Weltrekord liegt bei dreizehn Minuten, zweiunddreißig Sekunden. Aber für einen Fisch ist das eine ziemlich schlappe Leistung. Nicht dass Fische den Atem anhalten würden oder so, aber ich habe auch nicht direkt Kiemen, mit denen ich arbeiten könnte. Galen sagt, er hält auch nicht den Atem an. Syrena füllen ihre Lunge mit Wasser und ziehen daraus anscheinend den Sauerstoff heraus, den sie brauchen. Aber so groß ist mein Vertrauen dann auch wieder nicht, als dass ich das versuchen würde. In der Tat wird mich nur eines dazu bringen, wirklich daran zu glauben: wenn mir eine Flosse wächst. Selbst die Tatsache, dass ich gleich bei meinem ersten Versuch einen Weltrekord gebrochen habe, reicht nicht aus, um mich davon zu überzeugen, Meereswasser einzuatmen. Das läuft nicht.
    Ich latsche zurück, bis ich wieder bis zum Hals im Wasser stehe, und lösche die gestoppte Zeit auf der Uhr. Dann fülle ich meine Lunge mit einem tiefen Atemzug auf und drücke auf den Startknopf. Und da spüre ich es. Es durchdringt das Wasser um mich herum, ein Pochen ohne Rhythmus. Ein Puls. Jemand ist nah. Jemand, den ich nicht erkenne. Langsam gehe ich auf Zehenspitzen rückwärts, vorsichtig, darauf bedacht, nicht zu planschen oder zu spritzen. Nach einigen Sekunden macht es keinen großen Sinn mehr, auf Zehenspitzen zu schleichen. Wenn ich jemanden spüren kann, kann mich dieser Jemand auch spüren. Der Puls wird stärker. Kommt direkt auf mich zu. Schnell.
    Ich lasse jede Vorsicht, Regel und Dads Stoppuhr hinter mir und flitze wie eine Irre ins flachere Wasser. Plötzlich scheint mir Galens Befehl, an Land zu bleiben, gar nicht mehr so unvernünftig. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Das wenige, was ich über Syrena weiß, habe ich in einem eintägigen Crashkurs bei Galen zu Hause eingetrichtert bekommen. Genau wie die Menschen haben sie eine gesellschaftliche Struktur. Regierung, Gesetze, Familie, Freundschaft. Haben sie etwa auch Ausgestoßene? Vergewaltiger? Serienmörder? Wenn ja, dann ist mein kleiner Alleingang hier so eine Allein-ins-dunkle-Parkhaus-gehen- Geschichte. Dumm. Dumm. Dumm.
    Als ich mitten in einer Welle nach Luft japse, weiß ich, dass meine Lunge noch nicht auf Wasser vorbereitet ist. Prustend und hustend werde ich ein wenig langsamer, aber das Ufer ist nah, und ich habe den Blick auf einen Stock geheftet. Er ist dicker als mein Arm und liegt gleich hinter dem nassen Sand. Dass jeder Syrena-Kopf ihn wie ein Ästchen zersplittern lassen wird, spielt keine Rolle.
    Ich bin im knietiefen Wasser, als eine Hand meinen Knöchel packt. Ich schaue hinunter, aber mein Angreifer hat offensichtlich seine Tarngestalt angenommen, die kaum von den Wellen zu unterscheiden ist. Das Wasser unterbricht meinen Schrei zwar nicht, trennt ihn aber von der menschlichen Welt. Die Hand ist stark und groß und zieht mich wie eine reißende Strömung aus der sicheren Zone. Ich verschwende kostbare Luft, indem ich den Tarnklecks anschreie und nach ihm trete. Kampflos aufgeben ist nicht drin.
    Der Grund des Ozeans ist zerklüftet. Nur ein paar fingerbreite Strahlen des Sonnenlichts gelangen bis in die Tiefe hinunter. Diese Strahlen verschwinden, als meine Augen sich anpassen und mir alles wie in nachmittägliches Licht getaucht erscheint. Je mehr ich mich wehre, desto schneller schießen wir durchs Wasser– und desto fester hält mich mein Entführer umklammert.
    » Du tust mir weh!«, heule ich. Wir stoppen so schnell,

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